Unser Weg / ältere Version aus 1985

 Unser Weg

 Die Zwölf Schritte /ältere Version aus 1985   ( Das kleine braune Buch)

Herausgegeben und ©: Anonyme Alkoholiker deutscher Sprache
6. Auflage 28.-32. Tausend

 
DER ERSTE SCHRITT

Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern konnten.

Der Erste Schritt im Programm der Anonymen Alkoholiker ist wirklich der erste Schritt. Er steht am Anfang dessen, was wir später unser neues Leben nennen werden. Diesen ersten Schritt durch die Eingangstür in das neue Leben müssen wir als erstes tun. Da führt kein Weg vorbei, da gibt es kein Drumherum-Mogeln.Die anderen Schritte im A.A.-Programm sind zwar auch nummeriert, aber hier ist die Reihenfolge nicht mehr so verbindlich. Manche machen die im Zehnten Schritt empfohlene tägliche Gewissenserforschung schon bald, noch bevor sie in den Schritten zwei bis neun nennenswert vorangekommen sind.

"Wir haben zugegeben",

heißt es dort. Und noch bevor wir weiterlesen, was wir zugeben sollen, lohnt es sich, bei diesem ersten Halbsatz einen Augenblick lang zu verweilen. "Wir" - das sind wohl diejenigen, die uns dieses Programm aufgeschrieben haben. Sie hießen Bill und Bob. Deren Vornamen kennen wir, sie haben den Grundstein für die weltweite A.A.-Gemeinschaft gelegt. Die anderen "Wir" hießen vielleicht John und Dave, Alice oder Betty. Es waren Amerikaner, die gegen Ende der dreißiger Jahre durchweg auf lange Trinkerzeiten und weniger lange Zeiten der Nüchternheit zurückschauen konnten. Im Ringen gegen den sie übermächtig beherrschenden Alkohol hatten sie die Erfahrung gemacht, dass dieser Kampf gemeinsam erfolgreicher zu führen ist.

Deshalb also als erstes Wort im Ersten Schritt: "Wir". Als nun Bill, Bob, Jenny, John und Co. einige Zeit ohne Alkohol hinter sich gebracht hatten und immer mehr Alkoholiker zu der Gruppe gestoßen waren, standen sie nicht wenig erstaunt vor dem, was aus ihnen geworden war. In Gedanken gingen sie den Weg ihrer Entwicklung rückwärts und kamen zu dem Ausgangspunkt. "Wie war das eigentlich, womit hat es angefangen", fragten sie sich.Und da brauchten sie nicht lange überlegen. Waren auch die Wege der Entwicklung nicht einheitlich verlaufen, den ersten Schritt hatten sie alle gemeinsam gemacht: Wir haben zugegeben, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos waren. Und weil sie inzwischen in der Gemeinschaft Erfahrungen gesammelt hatten, weil sie auch die Rückfälle von Freunden miterlebt hatten, verbesserten sie ihre Erkenntnis: ..., dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind.

Schon die Pioniere der A.A.-Gemeinschaft nämlich wussten, dass die Kraftlosigkeit gegenüber dem Alkohol ein bleibender Zustand ist. Daran ändert auch nichts die Tatsache, dass man den übermächtigen Alkohol für den heutigen Tag unter Kontrolle hat.

Die Gruppe

Aber zurück zu dem ersten Wort des ersten Schrittes: "Wir". Dieses Wir oder der Begriff der Gruppe zieht sich wie ein roter Faden durch das Programm und durch die Traditionen des Anonymen Alkoholikers. Man könnte jetzt an dieser Stelle einen Soziologen zu Wort kommen lassen, der einen klugen Aufsatz über die Dynamik der Gruppe als selbsttherapeutische Hilfsgemeinschaft schreiben würde. Bleiben wir aber lieber bei der Praxis, denn die Anonymen Alkoholiker sind Praktiker, wenngleich das, was sie aus Notwendigkeit und Erfahrung ohne theoretischen Unterbau einfach praktiziert haben, inzwischen längst auch bei den Leuten Anerkennung gefunden hat, die an eine solche Sache wissenschaftlich-theoretisch herangehen.

Und diese Praxis sieht ganz schlicht so aus: Die Amerikaner Bill und Bob, zwei hoffnungslose Trinker, haben eines Tages gemerkt, dass sie, solange sie sich gemeinsam mit ihrem Problem befassten, nicht den Drang hatten, weiterzutrinken. Die verblüffende Erfahrung, dass zwei Trinker sich gegenseitig zur Nüchternheit verhelfen können, ist die Grundlage der weltweiten A.A.-Gemeinschaft geworden. Auch wenn bei A.A. alles sehr offen und scheinbar ungeregelt verläuft, eines der wenigen Dinge, die schriftlich festgehalten und dringend empfohlen sind, ist die Funktion der Gruppe als die einer maßgebenden Autorität in unserer Gemeinschaft.

Es mag zunächst wie ein Widerspruch klingen, wenn es heißt, dass es für Dich und mich zuerst und vor allem um die persönliche Nüchternheit an diesem heutigen Tag geht und dass andererseits die Gruppe eine so herausragende Rolle spielt. Auf diesen scheinbaren Widerspruch wird in späteren Kapiteln dieses Buches, in denen es um die Gruppe, die Anonymität und deren Bedeutung geht, noch zurückzukommen sein. Hier nur soviel: Das oberste Ziel der persönlichen Nüchternheit des einzelnen ist aus der Erfahrung heraus leichter erreichbar, wenn er persönlich zurücksteckt, wenn er das Ich zurücknimmt, wenn er die Funktionsfähigkeit der Gruppe mit dadurch unterstützt, dass er bis hin in die persönliche Anonymität aufhört, sich selbst besonders wichtig zu nehmen.

Auf dem Tiefpunkt

Der Erste Schritt empfiehlt uns, etwas zuzugeben. Das ist ziemlich viel verlangt, schon ganz allgemein betrachtet. Wer gibt schon gern etwas zu? Einen Irrtum, einen Fehler, eine Schwäche. Der Alkoholiker, der über Jahre hin an einem völlig verzeichneten Bild von sich selbst gemalt und daran geglaubt hat, tut sich noch schwerer, ein Fehlverhalten oder gar eine Unfähigkeit einzugestehen. Sein Sträuben gegen die Erkenntnis, Alkoholiker zu sein, wird verständlich, ahnt er doch, dass ihm dieses Geständnis als Konsequenz den Alkohol wegnehmen würde. Deshalb findet er tausend Beschwichtigungen, Beschönigungen und Verharmlosungen; er verweist auf hundert seiner Bekannten, die ja auch trinken; er führt ein paar zufälliger Trockenheit als Beweis dafür an, dass auch er den Alkohol unter Kontrolle halten kann. Und er trinkt weiter; trinkt weiter bis an einen Punkt, an dem es nicht mehr weiter geht.

Dieser Tiefpunkt mit dem Heraufdämmern der Erkenntnis, dass ein Weiterleben in der bisherigen Form nicht mehr möglich ist, stellt sich im Leben der Alkoholiker unterschiedlich dar. Bei dem einen ist es der körperliche Ruin, ist es der greifbar nahe gerückte Tod; bei dem anderen sind es überhandnehmende Schwierigkeiten im Beruf, sind es Kündigungen, anhaltende Arbeitslosigkeit; bei einem dritten sind es die zum Bersten angespannten zwischenmenschlichen Kontakte, sind es zerbrochene Familien, weggelaufene Ehepartner. Bei anderen dämmert es, wenn sie in einer psychiatrischen Klinik, in einer Ausnüchterungszelle oder im Gefängnis aufwachen. Es ist die allerbitterste Erfahrung im Leben des Alkoholikers und in der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker, dass der Neu-Ansatz des Denkens, dass das Umdenken fast immer erst an einem solchen Tiefpunkt einsetzt. Die vorher schon einmal erwähnten Theoretiker der Sucht-Therapie sprechen davon, dass ohne Leidensdruck kaum jemand zur Abstinenz zu motivieren ist. Etwas banaler ausgedrückt heißt das: Dem Alkoholiker muss es offensichtlich erst ganz, ganz dreckig gehen, ehe er einsieht, dass er trinkend nicht weiterleben kann.

Dabei erlebt jeder seinen eigenen Tiefpunkt. Glück hat dabei derjenige, der vielleicht im Vorausahnen erkennt, wohin die

Reise führt, und der deshalb schon einige Stationen vorher aussteigt, ehe die Talfahrt zu Ende ist. Erfahrungsgemäß gelingt dies nur wenigen; oft solchen, die in der Begegnung mit den Anonymen Alkoholikern aus Lebensberichten anderer das volle Elend erfahren und dabei für sich persönlich zu der Erkenntnis gelangen, dass es mit ihnen nicht erst so weit kommen muss.

Der Kontrollverlust

Wir haben zugegeben, heißt es im Ersten Schritt. Grammatikalisch gesehen ist das eine aktive Aussage. Wäre es in vielen Fällen nicht treffender, dafür das Passiv, die Leideform, zu wählen? - Ist den meisten von uns nicht diese Erkenntnis, diese Einsicht, geradezu aufgezwungen worden? - Aber wie dem auch sei: Feststeht, dass wir jetzt wissen, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind. Reichlich spät ist uns dies ins kaum noch vorhandene Bewusstsein gekommen. Aber immerhin hat der verbliebene Verstand noch ausgereicht, dass wir auf dem Tiefpunkt unsere Kraftlosigkeit dem Alkohol gegenüber zugegeben haben.

Warum eigentlich?, fragt an dieser Stelle der Skeptiker und fängt mit dem Argumentieren von vom an: Gut, zugegeben, ich habe viel getrunken, ich hatte die Kontrolle über Trinkmenge, über Zeit, Geld, Versprechungen und Verpflichtungen zeitweise völlig verloren. Aber jetzt, sagt derjenige, dem einige Tage der Trockenheit schon wieder vermeintliche Sicherheit geben, ist das alles ganz anders. Die kurze Trockenzeit hat diesen Freund körperlich wieder halbwegs fit gemacht, auch der Denkapparat funktioniert wieder einigermaßen. Er hält sich jetzt für einen vernünftigen Menschen und glaubt, wie andere vernünftige Menschen kontrolliert trinken zu können.

Dieser Freund hat den ersten Schritt nicht vollständig vollzogen. Er hat zwar möglicherweise dazu angesetzt, den Fuß hochgehoben, dann aber diesen Schritt doch nicht vollständig ausgeführt. Auf seine Ausflüchte können die Anonymen

Alkoholiker mit tausendfach leidvoll erlebter und beobachteter Erfahrung antworten. Auch diese Erfahrung ist inzwischen längst wissenschaftlich abgestützt und bestätigt. Sie heißt: Der Alkoholiker kann niemals mehr kontrolliert trinken. Das eigentliche Merkmal dieser Krankheit ist nämlich der Kontrollverlust. - Wer das nicht glauben will, erinnere sich bitte an die Gedächtnislücken, an die sogenannten Filmrisse.

Und da es sich um eine unheilbare Krankheit handelt, bleibt dieses Symptom demjenigen, der diese Krankheit hat. Damit nun niemand sagt, dies sei eine A.A.-Marotte, kann man an die Urteile des deutschen Bundessozialgerichtes erinnern. In diesen Urteilen, in denen der Alkoholismus ausdrücklich als Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung festgestellt wird, ist der bleibende Kontrollverlust als das entscheidende Symptom dieser Krankheit herausgestellt.

Kapitulation

Es bleibt also dabei, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind. Dieser lapidaren Feststellung im Ersten Schritt schließt sich eine weitere Erkenntnis an: Wir haben auch zugegeben, dass wir unser Leben nicht mehr meistern konnten. Nun, dieses zweite Eingeständnis ist die Konsequenz aus dem ersten, es geht aber noch ein Stück weiter als die im ersten Halbsatz empfohlene Kapitulation. Mit dem zweiten Teil des Eingeständnisses wird die Kapitulation vollständig. Wir wissen, dass wir mit dem Alkohol nicht weiterleben können, wir wissen aber auch, dass wir allein aus diesem Teufelskreis nicht herauskommen.

Der zweite Teil dessen, was wir im Ersten Schritt zugeben sollen, lässt allerdings vieles offen. Es heißt da nur, dass wir unser Leben nicht mehr meistern können. Es muss sich also etwas verändern, es muss also jemand oder etwas Neues in unser Leben treten. Dieser zweite Teil des Ersten Schritts ist eigentlich eine Frage; die Antwort bleibt noch offen. Dieser Satzteil leitet über zu den nächsten Schritten, zu den weiteren Empfehlungen im Programm der Anonymen Alkoholiker.

Das Ende des Ersten Schrittes sieht uns also am Boden liegen, ohnmächtig und hilfesuchend die Hand ausstreckend. Wir wissen nur, dass jemand nach dieser ausgestreckten Hand greifen muss, um uns aus dem Sumpf unseres Elends herauszuziehen. Wir uns von der anderen Seite jetzt bei der Hand nimmt, das steht im Zweiten Schritt.

 
DER ZWEITE SCHRITT

Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Kraft, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.

Dieses Kapitel ist nicht zum Überblättern bestimmt. So einfach dürfen wir es uns nicht machen. Es führt nämlich nicht weiter, wenn wir um die unbequemen Schritte im A.A.-Programm einen Bogen machen und jetzt gleich beispielsweise auf den Vierten Schritt hüpfen, nur weil darin nicht von Höherer Kraft oder ähnlichem die Rede ist.

Manche Alkoholiker und gelegentlich auch A.A.-Gruppen möchten um diesen Themenbereich einen Bogen machen. Sie meinen, die gesamte Ausrichtung des A.A.-Programms auf eine höhere Kraft sei ein überkommenes Relikt, es sei unmodern, dies in die Diskussion einzubeziehen. Außerdem schrecke man mit solcherart von Themen höchstens Neulinge ab.

Dieses Sichherumdrücken ist völlig überflüssig, wie man bei einigem Nachdenken feststellen wird. Aber wie gesagt: bei einigem Nachdenken. Dazu aber müssen wir uns aufraffen.

Ein Arbeitsprogramm

Mit dem Zweiten Schritt nämlich wird aus den Empfehlungen der Anonymen Alkoholiker ein Arbeitsprogramm. Der Erste Schritt ist uns zwar auch nicht leichtgefallen, aber er wurde uns quasi aufgezwungen. Am Tiefpunkt eines verkorksten Lebens hatte uns die Verstrickung in die Sucht praktisch die Atemluft abgeschnürt. Den meisten von uns blieb gar nichts anderes übrig, als die Kraftlosigkeit gegenüber dem Alkohol zuzugeben. Wer immer wieder besinnungslos im Boxring liegend ausgezählt wird, kann zwar dennoch behaupten, er sei stärker als sein Gegner; bald wird ihm das niemand mehr glauben. Irgendwann, wenn er von den Schlägen des Gegners gekennzeichnet ist, wird er selbst zugeben müssen, dass der andere stärker ist.

Wir haben also zugegeben, was im Ersten Schritt steht. Wir haben uns dagegen aufgebäumt, aber schließlich waren die Argumente der Gegenseite so stark und so schmerzlich, dass wir zum Eingeständnis eigener Ohnmacht gezwungen und damit auch bereit waren, unsere Niederlage zuzugeben.

Das reicht ja dann wohl auch, - dachten viele von uns. Man plante den wöchentlichen Meetingsbesuch ein, ließ sich Pantoffeln und die Limonade bringen und lehnte sich zufrieden in den Fernseh-Sessel. Leider - und viele sagen später Gott sei Dank - ist es nicht so einfach. Mit dieser Art, den Ersten Schritt zu vollziehen und es dabei bewenden zu lassen, kann man möglicherweise für den Augenblick aufhören zu trinken; so aber kann man nicht trocken bleiben, geschweige denn nüchtern werden.

Erinnern wir uns an den Schlusssatz des vorausgegangenen Kapitels. Das Eingeständnis unserer Kraftlosigkeit hat uns im Elend am Boden liegend getroffen. Dort aber konnten wir so nicht liegen blieben, weder mit, noch ohne Alkohol.

"Irgendetwas"

Erinnern wir uns auch, was wir in dieser Situation gesprochen haben, wie sich die Niederlage verbal artikuliert hatte: "Ich kann nicht mehr; so geht es nicht weiter; ich will, ich darf nicht mehr trinken; das halte ich nicht mehr durch; irgendwas muss jetzt geschehen."

Dieses verschwommene "Irgendetwas" ist das Stichwort, das Schlüsselwort zum Zweiten Schritt. In absoluter Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit stammeln wir "irgendetwas" und sind bereit, jeden und jedes anzunehmen, was uns aus diesem Sog herauszieht. "Machen Sie mit mir, was Sie wollen, schicken Sie mich von mir aus nach Sibirien oder sonst wohin; nur helfen Sie mir!" - So ein Freund in verzweifelter Stunde bei seinem Hausarzt.

Für viele von uns war dieses "Irgendetwas" die Notiz in der Zeitung, die Fernsehsendung oder ein anderer Hinweis auf die Anonymen Alkoholiker. In der Begegnung mit diesen nüchternen, sachlichen, leidenschaftslosen Extrinken wurde für uns trostreich zur Gewissheit, mit diesem Problem nicht allein dazustehen. Sehr bald wurde uns aber auch - zunächst enttäuschend - klar, dass diese Gruppe abgehärmter Trinker mit der Erfahrung der Nüchternheit kein Patentrezept gegen Alkoholkonsum zu verteilen hatte. Da gab es Nüchternheit nicht als Geschenk. Da wurde von Nüchternheit als dem Ergebnis eines Entwicklungs-Prozesses berichtet, da wurde sie als Aufgabe und Arbeitsauftrag geschildert. Da wurden wir eingeladen, mitzudenken, an uns zu arbeiten, Inventur zu machen, Fehler einzugestehen und uns für die Sache zu engagieren.

Einwände

Das mit dem Engagieren ging ja noch. So ein bisschen Rumwurschteln und Vereinsmeierei, das lag uns noch von der Trinkerzeit her. Aber Nachdenken? - Das war schon ziemlich viel verlangt. Und dann kamen die gleich mit solchen Hämmern: "Kraft - größer als ich selbst" und so. "Wo gibt's denn so was? Scheint doch ein versteckter religiöser Haufen zu sein! Was brauche ich den lieben Gott, habe ich ihn zum Trinken nicht gebraucht, werde ich es auch ohne ihn lassen können. Was hat denn dieser Gott überhaupt mit meiner Krankheit zu tun, wo es den doch überhaupt nicht gibt! War schon seit der Konfirmation nicht mehr in der Kirche, bin ausgetreten, und dann kommen die mir mit so was..."

Also mit mir nicht - sagten wir zu Anfang. Und als dann Leute, die länger dabei waren, meinten, bei ihnen sei das zu Anfang genau so gewesen, inzwischen seien sie fromm und gläubig, da ging uns das erst recht über die Hutschnur. "Aha", sagten wir, "so ist das: Bekehrung durch die Hintertür, tröpfchenweise und auf Raten". - Nee, mit mir nicht. Und von wegen geistiges Programm, - wenn ich das schon höre, dann kann ich ja auch gleich zum Pfarrer gehen.

Ausreden lassen, ruhig ausreden lassen, und dann den Neuling zurück zum Thema holen. Wir reden über den Zweiten Schritt. Darin steht nichts von Religion, auch das Wort Gott kommt nicht vor. Wohl aber die "Kraft, größer als wir selbst". Und das ist gar nicht so problematisch.

Bisher war der Alkohol die Kraft, die größer und stärker war als ich selbst. Um den Alkohol aus meinem Leben zu verbannen, brauche ich Kraft, die ich allein nicht aufbringen kann. Da weiß ich aus bitterer Erfahrung. Ich brauche also "irgendetwas", das stärker ist als ich. So einfach ist das mit dem Zweiten Schritt.

Größer als wir selbst

Stärker als ich ist wahrscheinlich die Gruppe, denn dort sind einige, die es geschafft haben. Diese Ansammlung von Schwächlingen, von denen jeder einzelne auch nicht mit dem Alkohol fertig geworden ist, hat im Zusammenstehen offensichtlich so viel Kraft entwickelt, dass sie sogar anderen weiterhelfen kann. Das ist also schon eine Kraft größer als ich selbst.

Und wenn nun in einem Meeting über den Zweiten Schritt manche für diese Kraft den Namen Gott einsetzen, dann ist das deren Sache. Niemand verlangt das von Dir; wie überhaupt niemand bei A.A. etwas von Dir verlangt. Weil aber das Wort Gott nun schon einmal gefallen ist, hier nur ganz wenig zu diesem Thema (mehr wird darüber bei anderen Schritten zu sagen sein). Der Gott, von dem der Nachbar beim Meeting spricht und schwärmt, weil er ihm geholfen hat, hilft Dir nicht weiter. Dein Nachbar nämlich spricht von seiner persönlichen Erfahrung mit einer Höheren Kraft, um die er sich bemüht hat. Diese Begegnung mit demjenigen, den er nun Gott nennt, hat er nur für sich gemacht. Er kann Dir davon erzählen, dass diese Begegnung in den Dünen der holländischen Küste oder auf einer Bergwanderung, vor einer Telefonzelle oder beim Kartoffelschälen stattgefunden hat, das hilft Dir im Prinzip nicht weiter. Auch wenn Du fortan tonnenweise Kartoffeln schälst, würde Deine Einsicht nicht wachsen, wenn Du dabei nicht das Radio ab- und den Denkapparat einschaltest.

In Zweifelsfällen hilft nachdenken. Das hat schon der Lehrerin der Schule gesagt. Hier wie in vielen anderen Bereichenhaben wir Nachholbedarf, weil wir in der Saufzeit selten und dann meist nicht mit klarem Kopf nachgedacht haben. Und wenn im nunmehr klaren Kopf plötzlich zu viele Gedanken sich durcheinander drängen, dann hilft es, ein leeres Stück Papier vor sich zu legen und die Gedanken ein bisschen zu notieren. Das machen auch größere Denker so.

Für uns Wieder-Anfänger könnte das Nachdenken über den Zweiten Schritt im A.A.-Programm da einsetzen, wo wir aufhören, uns als die Größten einzuschätzen. Schon das Eingeständnis, in der Saufzeit ganz schön viel Mist gebaut zu haben, ist ein solcher Denkansatz. Und dann zugeben, dass es Leute gibt, die schöner, größer, klüger, erfolgreicher sind, die mehr können und mehr wissen. Dann kommt der Punkt, an dem so etwas wach wird wie Demut in uns; Demut aber nicht in dem Sinn von Unterwürfigkeit im Jute-Sack des Büßers. Vielleicht bringt es uns auf den Weg, wenn wir erst einmal aufhören, unsere Kollegen im Betrieb durch die Bank für Blödmänner, Radfahrer und hergelaufene Nichtskönner zu halten. Vielleicht bringt uns der Gedanke daran, dass die Kollegen uns über Jahre hin gedeckt und unser Besoffensein vertuscht haben, der Demut näher. Einer Demut, die auch den Gedanken zu Dankbarkeit hin öffnet.

Kurz gesagt: Absteigen, runter vom hohen Ross, einreihen in das Heer der Alltagsmenschen, aufhören, sich als Sonderfall einzuschätzen. Das Letztgesagte gilt auch für Dich und Dein Verhältnis zur Gruppe. War es zunächst ein Trost, zu erfahren, dass andere das gleiche Problem haben wie Du, so bleibt diese Erfahrung nicht ohne Dich hart fordernde Konsequenz. Wenn die anderen in der Gruppe nämlich von sich alle mit Überzeugung sagen, sie seien Alkoholiker, dann gilt das, der Du dieselben Symptome hattest, auch für Dich. Dann sag auch: Ich bin Alkoholiker. Aber sag es ohne den gedachten Nebensatz, der mit "aber" beginnt. Mach an das Wort Alkoholiker für Dich kein Sternchen, um in einer Fußnote den Sonderfall zu erklären und zu sagen, es sei bei Dir immerhin so schlimm ja noch nicht gewesen.

Also Alkoholiker ohne Einschränkung. Wir haben zugegeben, Alkoholiker zu sein wie die anderen, eingereiht in die Phalanx der Schwächlinge, die alle ihre Ohnmacht zugegeben haben und gemeinsam daraus Stärke entwickeln.

Geistige Gesundheit

Das ist also eine Kraft, größer als Du selbst. Jetzt fehlt nur noch die Überzeugung, dass diese Kraft fähig ist, bei der Wiedererlangung geistiger Gesundheit hilfreich zu sein.

Wieder wird sich der Zweifler zu Wort melden: "Was heißt hier geistige Gesundheit? Seit ich nicht mehr saufe, brauche ich morgens nicht mehr zu kotzen. Ich zittere nicht mehr so sehr, ich kann morgens aufstehen. Ich habe meine Körperfunktionen wieder unter Kontrolle. Bei der Arbeit läuft es auch wieder. Gestern hat mich mein Chef sogar gelobt. Der Lebertest ist auch wieder halbwegs in Ordnung. Und meine Frau hat die Scheidungsklage zurückgenommen." Das ist freilich schon eine ganze Menge positiver Aspekte, die der neue Freund ins Feld führen kann. Aber das Lügen beispielsweise, das vielleicht über Jahre zur täglichen Routine geworden war, geht nicht so schnell weg wie der Durchfall. Da muss man sich schon über lange Zeit beobachten, dabei ertappen, wie man aus Leichtfertigkeit, aus Angeberei, aus Gewohnheit schnell mal ein bisschen übertreibt, ein bisschen beschönigt und sich selbst in ein besseres Licht rückt.

Wenn man sich das, was sich früher automatisch im Unterbewusstsein abgespielt hat, ins Bewusstsein holt, dann ist man auf dem Weg, auf einem Feld das Unkraut auszujäten. Hier wäre ein Ansatz zu geistiger Gesundung.

Aber die Sache mit Lüge und Wahrheit ist nur ein kleiner Teilaspekt all dessen, was in unserem Inneren nicht mehr in Ordnung ist. Da ist dann noch die Sache mit dem Egoismus und dem schwierigen Lernvorgang, an dessen Ziel die Fähigkeit steht, sich selbst an die zweite Stelle zu rücken. Wenn man das im Zusammenleben mit dem Partner schafft, nennt man dies auch Liebe. Großmäuligkeit, Jähzorn, Rechthaberei, Intoleranz - die Aufzählung all dessen, woran zu arbeiten ist, ließe sich fortsetzen.

Weil aber der Abbau dieses Schuttberges von Fehlhaltungen Voraussetzung für eine dauerhafte Nüchternheit ist, müssen wir uns hier ans Werk machen.

Glaubt jemand, dass er das alles allein schafft? - Nein; deshalb gelangten wir in Erkenntnis der über das eigentliche Alkoholproblem hinausgehenden Kraftlosigkeit zu der Überzeugung, dass nur eine Kraft, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.

 

DER DRITTE SCHRITT

Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen.

Um es gleich vorweg zu sagen: dieser Dritte Schritt ist kein Anlass, sich hinzuknien oder im Meeting jetzt langsam, feierlich und getragen zu sprechen. Die Anonymen Alkoholiker haben keine Liturgie. Den Dritten Schritt vollzieht man nicht in feierlicher Pose mit zum Gelübde erhobener Schwurhand vor brennenden Kerzen. Hilfsmittel wie Gebetsteppiche, Weihrauch und Orgelspiel sind in der Tat verzichtbare Krücken bei diesem Schritt. Demjenigen, der hier an religiöse Bezüge anknüpfen kann, mögen Bilder und Symbole eine Brücke sein. Aber auch er muss über diese Brücke selbst gehen und darf sie nicht mit einem Sessellift verwechseln, der ihn - möglichst auch noch zum Nulltarif - über den Fluss trägt.

Frohe Botschaft

Bei einer nachdenkenden Betrachtung über den 3. Schritt sollte eigentlich auch ein Wort vom Glück am Anfang stehen. Von der Voraussetzung ausgehend, dass derjenige, der sich bis an diese Stelle durchgelesen hat, schon auf einige trockene Tage zurückschauen kann, ist die Annahme gerechtfertigt, dass er sich jetzt schon unvergleichlich wohler fühlt. Nach der Einsicht in die Kraftlosigkeit gegenüber dem Alkohol und der daraus gezogenen und Tag für Tag bewältigten Konsequenz völliger Abstinenz hat die körperliche Wiederherstellung ganz sicherlich schon Fortschritte gemacht. Die zunächst dämmernde und dann klarer werdende Erkenntnis, dass es eine Höhere Kraft gibt und dass diese Höhere Kraft für die Genesung notwendig ist, hat seitdem auch die das Gehirn umlagernden Dunstschleier mehr und mehr aufgerissen.

Plötzlich ergreift uns dieses unsagbare Glücksgefühl. Und wenn auch alle Warnungen vor der Gefahr dieser Anfangs-Euphorie berechtigt und ernst zu nehmen sind, so braucht man dieses Glücksgefühl nicht zu unterdrücken. Die Anonymen Alkoholiker sind kein Büßer-Orden. Wir sind nicht mit dem Makel der Unvollkommenheit geprägt und dazu verurteilt, fortan schuldbeladen wie begossene Pudel mit gesenktem Kopf durch die Gegend zu schleichen.

Wie wir mit der Bewältigung unseres bisherigen Lebens zurechtkommen, darüber wird bei der Behandlung nachfolgender Schritte noch zu sprechen sein. Hier nur ein Hauch des Optimismus, den A.A.-Freunde nach einiger Zeit der Nüchternheit ausstrahlen; nur angedeutet, die Fröhlichkeit, die in das Leben der meisten von ihnen eingezogen ist., Tatsächlich spürt man schon bald, wie schön es ist, nüchtern zu sein und zu bleiben. Es lohnt sich. So gesehen, ist das, was wir durch die Anonymen Alkoholiker erfahren, im echten Sinne des Wortes eine frohe Botschaft.

Aber zurück zum Dritten Schritt, der zunächst kein Gebet, sondern eine geistige Anstrengung, ein Hirnkasten-Training ist. Keine einmalige Frühgymnastik. Man braucht auch ein bisschen mehr Zeit als zum Lottoschein-Ausfüllen, zum Horoskop-Lesen oder anderen Glücks-Anstrengungen dieser Art.

Falsche Wege

Warum tun sich viele von uns so schwer mit diesem Dritten Schritt? Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie falsch an die Sache herangehen. Da taucht im Programm der A.A. zum ersten Mal das Wort "Gott" auf, und schon meinen wir, das sei aber nun etwas ganz Besonderes. Nachdem dann Freunde erzählen, dass sie auch ihre liebe Not mit diesem Schritt hatten, fühlen wir uns geradezu ermuntert, "die Dinge auf uns zukommen zu lassen", - was natürlich nur eine hochgestochene Redewendung für Passivität, eine Ausrede für unsere Faulheit ist. Der Dritte Schritt nämlich geschieht nicht mit uns, wird nicht von außen an uns herangetragen, wird nicht auf dem Tablett serviert.

Wer sich hinhockt und auf Erscheinungen wartet, wappne sich mit Geduld, denn er wird sein Leben lang umsonst warten. Wer mit hehren Augenblicken, mit zuckenden Blitzen und Donnergrollen rechnet, verkalkuliert sich. Der Gott, von dem im Dritten Schritt die Rede ist, offenbart sich nicht in Feuerwerk und Glockengeläut. Es bringt auch nichts, diesem Gott in schlafloser Nacht auflauern zu wollen; auch wenn Du stundenlang in Dich hineinhorchst, wirst Du nichts hören als vielleicht ein Knurren des Magens und Deinen Herzschlag.

Hier ist auch nicht von Albernheiten die Rede wie im Bericht über den Wanderverein vom Wettergott, der "schließlich ein Einsehen hatte und es gut meinte". Auch nicht von dem "Ad Du lieber Gott", den wir so leichtfertig in den Mund nehmen Der Dritte Schritt meint nicht den Gott der Kindheitsvorstellungen, der in den Wolken sitzt oder sonst wo in nebulöser Verschwommenheit in Gefühlsduseleien herumgeistert.

Aber was dann? wirst Du jetzt fragen, und hier soll versuch! werden, Dir von dem Gott zu sprechen, wie er zu verstehen ist. Hier also Beispiele und Denkanstöße aus der Erfahrung, wie sich ein solcher Prozess entwickeln kann:

Dankbarkeit

Im Meeting erleben wir immer wieder, dass Freunde in ihren Lebensberichten an die Stelle kommen, wo es für sie selbst unerklärlich wird. Plötzlich stehen sie im Rückblick staunend vor dem Phänomen, dass sie irgendwann mit dem Trinken aufhören konnten. Selbst flüssige Erzähler kommen an dieser Stelle ins Stocken. Sie ringen mit Formulierungen und sprechen schließlich davon, dass bei ihnen plötzlich da Groschen gefallen sei. "Da hat irgendwer den Schalter umgedreht", sagt der Freund im Meeting und unterstreicht das Gesagte, indem er mit der Hand an der Schläfe eine Bewegung macht, als knipse er an einem Lichtschalter. Ein dritter sagt, dass es plötzlich über ihn gekommen sei, und fügt rasch hinzu: "Was, weiß ich nicht, eigentlich kann ich mir das alles bis heute nicht erklären." Irgendetwas ist mit mir passiert, meint ein anderer Freund. Und da haben wir wieder das Schlüsselwort "irgendetwas", das uns schon bei der Betrachtung des Zweiten Schrittes begegnet ist.

Wie war's, lieber Freund, wenn Du das Dich so in Staunen versetzende Phänomen Deiner plötzlich einsetzenden Nüchternheit mit der Höheren Kraft in Verbindung brächtest? Das kann Dir doch nicht schwer fallen, wo Du doch im Meeting selbst gesagt hast: "So viel weiß ich ganz sicher, ich selbst habe das nicht zustande gebracht." - Bei einem großen A.A.-Treffen hat ein Freund davon erzählt, dass er einmal über sein Nüchternwerden nachgedacht hat und eigentlich mit tiefer Dankbarkeit erfüllt war. Er hatte -bildlich gesprochen - einen fix und fertig geschriebenen Dankesbrief in der Tasche, zugeklebt und frankiert; aber abschicken konnte er den Brief nicht. "An wen denn? Wem sollte ich danken? Auf dem Briefumschlag fehlte noch die Adresse." Und der Freund erzählte weiter, dass er in diesem Augenblick seinen Stolz aufgegeben und sich entschlossen hat, denjenigen, dem er zu danken bereit war, fortan Gott zu nennen.

Der Gott, so wie ihn der Dritte Schritte meint, ist ein Gott der Realität, die in extrem schwieriger Situation in unser Leben getreten ist und ihm eine andere Wendung gegeben hat. Das hat nichts mit irgendwelchen schummerigen Gefühlen auf der linken oberen Seite des Brustkorbes zu tun, das ist ein greifbares Erlebnis.

Aha-Erlebnis

Und weil hier nicht graue Theorie erörtert wird, noch einmal der Hinweis, dass man im Verlauf seines Denkprozesses ganz deutlich spürt, wenn man an dieser Stelle ankommt. Dieses geistige Aha-Erlebnis ist so deutlich und befreiend, wie wenn einem nach langem Knobeln der Schlüssel zur Lösung einer Rechenaufgabe einfällt. Es ist so, wie wenn einem plötzlich ein Name einfällt, nach dem man verzweifelt gesucht hat. Wir alle kennen solche Situationen, wenn einem jemand gegenübersteht, den man kennt, auf dessen Name man aber im Augenblick nicht kommt. Man wird nervös und unruhig, und fühlt sich plötzlich froh und erleichtert, wenn einem der Name plötzlich einer hinteren Ecke des Hirnkastens ins Bewusstsein und damit auf die Zunge kommt.

So real wie jener, der nun von einem Augenblick zum anderen plötzlich mitsamt seinem Namen Meier vor uns steht, so spürbar und greifbar ist uns dann die Gewissheit, dass das Lösungswort für unser Leben Gott heißt.

Dabei braucht jetzt nicht über Namen diskutiert zu werden. Wer das Wort Gott nicht mag, kann auch weiter von der Höheren Kraft sprechen. Er kann auch bei seinem "Mister X" bleiben, wie es ein anderer A.A.-Freund ausdrückt. Den Namen kann sich jeder selbst aussuchen. Es erleichtert halt nur ungemein die Verständigung, wenn zwei Leute, die sich über denselben Gegenstand unterhalten, für diesen auch denselben Ausdruck verwenden.

Jedenfalls ist das Eintreten, das Eingreifen Gottes in unser Leben eine Begegnung von Lebensentscheidender Bedeutung, vergleichbar in etwa mit der Bedeutung, die Du dem ersten Zusammentreffen mit Deinem späteren Lebenspartner beimisst.

Eine solche Begegnung mit dem Gott, wie er Ihn verstand, wird in der Bibel von einem gewissen Saul zu Tarsos geschildert. Er war bis dahin gegen diesen neumodischen Galiläer aufgetreten, der von sich behauptete, er habe ein Rezept für die Befreiung des Judenvolkes. Saulus war politisch und religionsphilosophisch ein Gegner dieser neuen Bewegung und änderte eines Tages seine Ansicht. TJI der bildreichen Sprache des Orients schildert Lukas diesen Sinneswandel im Gleichnis als eine Begegnung, die jenem Saulus auf dem Weg nach Damaskus widerfahren sei. Das hat möglicherweise nicht so stattgefunden, wie es dort geschildert wird. Sicher aber hat sich das im Kopf - und vielleicht nur im Kopf - jenes Saulus' abgespielt, der sieb von da an dann Paulus nannte. Ob wir dies glauben oder nicht spielt hier keine Rolle. Es soll nur als Beispiel angeführt sein, weil wir alle in irgendeiner Form eine solche Damaskus-Stunde des Umdenkens erleben.

Abhängigkeit

Also nehmen wir an, Du hattest ein solches Erlebnis. Gott ist für Dich zur Gewissheit geworden. Nun steht im Dritten Schritt, dass wir Ihm unserem Willen und unser Leben anvertrauen sollen.

Jetzt ist wieder ein unüberwindbares Hindernis auf unseren Weg gestellt. Gerade sind wir aus der einen Abhängigkeit raus, da sollen wir uns in die nächste Abhängigkeit begeben, Gerade jetzt, wo wir anfangen, wieder ein bisschen Selbstvertrauen und Selbstsicherheit aufzubauen.

"Ich verlas mich auf gar nichts mehr", hat ein Freund im Meeting gesagt. Er hat gerade einen Rückfall gebaut und sich wieder rausgeschafft. Er ist noch auf der Suche. Im Gespräch über die Schritte zwei und drei sagt er, der Hausarzt und die Psychiatrie sei die Höhere Kraft gewesen, die ihm jetzt geholfen habe. Fortan nehme diese Funktion die Gruppe ein. Und obwohl er "mit dem Gott noch nichts so Richtiges anzufangen weiß", ist er ihm wahrscheinlich - ohne es noch selbst zu wissen - schon ganz nahe. Solche Nähe ist keine neue Abhängigkeit. Sie ist frei gewählte Partnerschaft. So wie der Handwerksmeister, dessen Firma expandiert, sich einen Kaufmann als Kompagnon ins Geschäft nimmt, weil er selbst von Buchführung und all diesem Kram nicht viel versteht. Für alles im Leben, was wir nicht selbst können, nehmen wir die Hilfe anderer in Anspruch, ohne uns deshalb rundum abhängig zu fühlen. Natürlich sind wir beispielsweise vom Elektrizitätswerk abhängig, das uns den Strom ins Haus liefert. Aber macht uns diese "Abhängigkeit" nicht frei, an dunklen Abenden zu lesen, fernzusehen, zu basteln oder sonst etwas Schönes zu tun, was wir ohne Elektrizität nicht oder nur sehr viel schwieriger bewerkstelligen könnten?

Partnerschaft

Wenn wir unseren Willen und unser Leben Gott anvertrauen, so heißt das nicht, dass wir nun die Hände in den Schoß legen und sagen können: Nun mach Du mal. Der Partner, mit dem Du ein Kompagnon-Geschäft eingehst, wird nicht mitmachen, wenn Du fortan nur noch Spazierengehen willst. In der Partnerschaft mit Gott heißt das, dass wir ihm die Oberleitung überlassen, dass er die Regie-Anweisungen gibt. Er ist der Trainer, der uns vor dem Spiel und in der Halbzeit Anleitungen gibt: Auf dem Spielfeld sind wir allein, die Tore schießt nicht der Trainer.

Wenn wir unseren Willen in seine Hände geben, dann bedeutet dies doch, dass wir nicht mehr unseren eigenen Willen um jeden Preis durchsetzen wollen. Das heißt nicht, dass wir keinen eigenen Willen und keine eigene Verantwortung mehr haben. Aber im Vertrauen darauf, dass derjenige, der uns am Tiefpunkt aufgelesen und aus der Not geführt hat, es auch weiterhin gut mit uns meint, überlassen wir ihm die Kommandobrücke. Dabei wissen wir, dass der Kapitän zwar die Richtung bestimmt, dass aber auf dem Schiff dann immer noch für die ganze Mannschaft eine Menge Arbeit bleibt.

Die Abhängigkeit vom Alkohol war grausam, demütigend, entwürdigend. Sie hat uns zu großsprecherischen Lügnern, polternden Krakeelern gemacht und in Unmündigkeit zurückgeworfen. Die freigewählte Partnerschaft des Dritten Schrittes ist genau das Gegenteil davon. Nachdem wir gemerkt haben, dass wir so tolle Kerle gar nicht sind, seit wir wissen, dass wir allein nicht aus diesem Sumpf herausgekommen sind, ist es geradezu eine logische Konsequenz, dass wir mit diesem neuen Kumpel weiter das Rennen machen. Und weil er es besser kann, lassen wir ihn ans Steuer und begnügen uns mit dem Beifahrersitz (und der ist, wie Motorsportkenner wissen, kein Schlafplatz).

"Wir haben uns entschlossen", heißt es im Dritten Schritt. Nehmen wir diesen Satz doch einmal beim Wort. Entschlossen: da steckt doch drin, dass bis dahin in uns irgendetwas verriegelt und vernagelt war. Also auf mit diesem Schloss vor dem Herzen, weg mit dem Brett vor dem Kopf! Wenn wir uns öffnen und bereit sind, vollziehen sich Denkprozesse, wie sie der Dritte Schritt fordert, viel leichter. Bereitwillig sein heißt, bereit und willig sein. Wozu aber?

Unser Leben und unseren Willen sollen wir dem anvertrauen, was wir als Kraft erkannt haben, die größer ist als wir, demjenigen, den wir als Gott unserer Erfahrung und unseres persönlichen Erlebnisses jetzt verstehen gelernt haben.


DER VIERTE SCHRITT

Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.

Nüchtern werden ist ein Prozess, ein Vorgang, eine Entwicklung. Das schafft niemand auf Anhieb. Dazu ist eine Wegstrecke zurückzulegen und zwar zu Fuß. Da wird man nicht gefahren. Wir müssen uns schon selbst auf den Weg machen. Startpunkt ist der Augenblick, in dem Wunsch und Notwendigkeit, mit dem Trinken aufzuhören, in uns so stark sind, dass wir mit Hilfe der Höheren Kraft mit Aussicht auf Erfolg den Kampf gegen den Alkohol aufnehmen können. Wir gehen nicht als Sololäufer, sondern in der A.A.-Gemeinschaft an diesen Start. Und weil dieses Team Erfahrung hat, gibt es uns Empfehlungen an die Hand, mit welchen Schritten wir das Ziel erreichen können.

Wenn man sich verirrt hat...

Wir sind nicht zu einem Langstreckenlauf gestartet, obwohl wir immer unterwegs sein werden. Vor uns liegt kein Wettrennen, aber auch kein Spaziergang. Wir haben uns auf einen Weg gemacht, der aufwärts führt. Uns ist kein Tempo vorgeschrieben, - im Gegenteil: Leute, die diesen Weg vor uns gegangen sind, empfehlen uns, nicht hastig zu sein und stattdessen lieber kleine Schritte zu machen.

Im vierten dieser empfohlenen Schritte rät man uns gar zu einer Pause, zum Verweilen, zum Stillhalten. An einem ungestörten Platz sollen wir rasten und nachdenken, wobei das eigene Ich Gegenstand dieses Nachdenkens ist.

Pfadfinder lernen fürs Geländespiel und Rekruten für ernstere Situationen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie in unwirtlichem Gelände die Orientierung verloren haben. Zugegeben, wenn wir unser bisheriges Leben mit einer Wanderung vergleichen, dann haben wir uns auch ganz schön verirrt. Eigentlich sind wir auf dem Weg bisher noch nicht weit vorangekommen.

Pfadfinder und Rekruten lernen in der Ausbildung, dass es sinnlos ist, auf verlorenem Weg ziellos weiterzulaufen. In der Verirrung bringt einen Panik nicht weiter. Nur wer dumm ist, rennt in einer solchen Situation kopflos hin und her. Nur wer noch nicht gemerkt hat, dass er sich verirrt hat, geht auf dem falschen Weg weiter. Nur wer den Ernst seiner Lage leichtfertig unterschätzt, wird auf gut Glück irgendeinen Weg ausprobieren.

Deshalb hilft in der Verirrung nur eines: zuerst einmal stehen bleiben und nachdenken. Dabei wird man sich den bisher zurückgelegten Weg in Erinnerung rufen und sich das Ziel vor Augen stellen. Mit dem ihm greifbaren Wissen und Hilfsmitteln versucht der Pfadfinder, seinen Standort zu bestimmen. Erst wird er versuchen, die Himmelsrichtungen herauszufinden. Wenn er in etwa weiß, wo er sich befindet, kann er auf sein Ziel hin den Weg fortsetzen. Nachdenken hilft also in der Situation der Verirrung und der Verwirrung. Haben wir uns - gegängelt vom Alkohol - nicht auch in die Irre leiten lassen? Ist es uns nicht längst der Kontrolle entglitten, wohin die Reise geht? Jetzt geht es uns wie dem verirrten Pfadfinder. Wir sitzen irgendwo und müssen erst einmal herausfinden, wo unser Standort ist. Um zu wissen, wo wir stehen, brauchen wir Klarheit über den bisher zurückgelegten, verworrenen Weg.

Wann mache ich Inventur?

In der beschriebenen Situation sind wir allein. Das ist nicht schlimm und ist auch kein Grund, sich zu ängstigen. Wir haben unseren Verstand und die Hinweise unserer Freunde, die vor uns aufgebrochen und auch an die Stelle gekommen waren, an der sie nicht mehr weiter wussten. Sie erzählen uns davon, dass auch sie ihre Inventur irgendwann einmal allein gemacht haben. Sich selbst kennen lernen, ist die intimste aller Bekanntschaften. Da möchte man zunächst niemanden um sich haben.

Bevor auf die Fragen, was wir bei der Inventur machen, wie und wozu wir das anstellen, eine Antwort versucht wird, taucht beim Meeting möglicherweise erst einmal die Frage nach dem Wann auf. Und wie bei vielen solchen innerhalb unserer Gemeinschaft gestellten Fragen gibt es viele Antworten, aber keine allgemein gültige Regel. Es gibt viele Antworten, weil bei uns jeder seine eigenen Erfahrungen hat und weil jeder seine eigene Meinung haben darf. Wenn man unter Inventurmachen Selbsterkenntnis versteht, dann ist dies nach einem alten Sprichwort der erste Schritt zur Besserung. Wenn also Inventur so viel heißt wie die eigene Person und deren Standort erkennen, wenn sie die Rückgewinnung von Selbstwertgefühl einschließt, dann steht der Vierte Schritt ganz sicher am Anfang des Prozesses unseres Nüchternwerdens. Dies einfach deshalb, weil derjenige, der immer noch mit einem völlig falschen Bild von sich selbst herumläuft, erfahrungsgemäß nicht lange trocken bleibt, geschweige denn nüchtern wird.

Wenn aber der Begriff der Inventur weitergefasst wird in Richtung auf Ursachenforschung, dann sollte man mit diesem Teil der Inventur zumindest langsam vorgehen. Abgesehen von manch berechtigten Einwänden gegen zuviel Ursachenforschung, worüber noch zu sprechen sein wird, sei hier schon gesagt, dass der Anfänger mit dieser Problematik erfahrungsgemäß überfordert und damit in seiner Nüchternheit gefährdet ist.

Beschränken wir aber Inventur auf das, was sie eigentlich ist, auf das Sortieren von Positivem und Negativem, auf das Zusammentragen von Erinnerungsfetzen mit dem Ziel der Selbsterkenntnis, dann gehört sie an den Anfang unseres neu begonnenen Lebens. Sie ist hier geradezu notwendig, weil sie im wörtlichen Sinn unsere Not wendet. Aber zurück zur ganz konkret gestellten Frage nach dem Wann der Inventur. Nun, Inventur macht man nicht zwischen Suppe und Hauptgericht beim Mittagessen, nicht zwischen Waschen und Abtrocknen beim Geschirrspülen.

Da braucht man schon ein bisschen Zeit und Ruhe. Viele berichten, dass sie Ruhe zur Inventur draußen in der weiten Natur gefunden haben; aber es kann genauso gut der Garten, der Hobbyraum oder die Wohnung sein, wenn man darin ungestört ist. A.A.-Inventuren sind in den Bergen, am Strand, beim Waldspaziergang, in D-Zügen, Kathedralen, bei langen Autofahrten oder Fußmärschen, in Krankenhäusern und Gefängnissen möglich. A.A.-Inventuren können fast überall gemacht oder zumindest in Gang gesetzt werden. Voraussetzung ist in allen Situationen sicherlich immer nur die Bereitschaft und die Möglichkeit zu innerer Ruhe.

Wo mache ich Inventur?

Ein Teil der Möglichkeiten, wo Inventur denkbar sein könnte, ist im vorausgegangen Satz schon angedeutet. Weil aber die Inventur so entscheidend mit dem Beginn des Nüchternwerdens zusammenhängt, drängt sich hier die Diskussion in dieses Kapitel, ob man nur durch A.A. oder durch eine Kur nüchtern werden kann. Es würde den Rahmen dieser Denkanstöße zum Vierten Schritt sprengen, jetzt Für und Wider in aller Breite darzulegen. Außerdem liegt diese Frage für die meisten von uns ja bereits im Gestern.

Jedenfalls ist die Zeit, in der wir gezwungenermaßen oder freiwillig vorübergehend aus dem Verkehr gezogen sind, recht geeignet, Inventur zu machen. Es ist geradezu der Sinn solcher Aufenthalte, uns Ruhe zum Nachdenken zu geben. Die in Krankenhäusern und Entzugskliniken angewandten Therapien zielen nach der körperlichen Wiederherstellung in diese Richtung. Eine solche Therapie durch Ärzte, Psychiater oder die als Gruppe fungierenden Mitpatienten ist umso Erfolg versprechender, je mehr sie uns zum Nachdenken und damit zur Klarheit über uns selbst verhilft.

Aber auch die beste und teuerste Entziehungskur befreit uns nicht von der Notwendigkeit, hier selbst tätig zu werden. Kein Professor, auch wenn er fünf Doktortitel hat, kann für uns Inventur machen. Wir müssen schon selbst herausfinden, wo wir stehen, was mit uns los ist, was wir aus dem bis dahin ziemlich verkorksten Leben herüberretten können, wie es überhaupt mit uns weitergehen soll. Ein solches Insichhineinhorchen braucht deshalb nicht unbedingt in einer Kur oder in einer Klinik stattzufinden. Bei A.A. sind die Beispiele Legion, bei denen die Standortbestimmung ("Ich bin Alkoholiker") außerhalb solcher Einrichtungen vollzogen worden ist.

Warum mache ich Inventur?

Das richtige Bild von sich selbst zu haben, ein Bild ohne Schnörkelrahmen und Verzierungen, ein Bild weder im Format einer Briefmarke noch in der Größe eines Wandgemäldes, dieses Gewinnen einer Klarsicht über die eigene Person ist das Ziel jeder gründlichen Inventur. Die generelle Antwort auf das Warum all unseren Bemühens steht in der A.A.-Präambel, wenn vom Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören, die Rede ist. Dort heißt es, dass es Hauptzweck ist, nüchtern zu bleiben.

Diesem Hauptzweck dient es, wenn wir uns darum bemühen, ein klares Bild von uns selbst zu gewinnen. Bisher hatten wir das nämlich nicht, weil wir die Welt um uns herum und die Welt in unserem Innern immer nur durch die Zerrbrille gesehen haben. Da waren wir wechselweise die Kings in der grölenden Biertischrunde oder das heulende, katzenjammernde Elend nachts allein in unserem Bett.

Aus diesen unrealistischen Extrempositionen heraus in die Mitte, ins gesicherte Senkrecht, zu finden, ist das Ziel unserer Inventur. Solange nämlich, wie wir uns an vermeintlicher Größe, an der Unwiderstehlichkeit unseres eingebildeten Charmes, an der umwerfenden Komik unseres labernden Humors, an der Unbegrenztheit unserer beruflichen Fähigkeiten hochgaukeln, solange ist der Griff nach dem, was uns diesen Wahn erst in den Kopf gesetzt hat, ganz nah. Erst wenn dieser nebulöse blaue Dunst aus unserem Hirn herausgepustet ist, können wir klar denken. Wir brauchen zu unserer Nüchternheit das nüchterne, klare, gefühlsfreie, mitleidlose Wissen um unsere eigene Person.

Wir sind bei der im Vierten Schritt empfohlenen Inventur auf der Suche nach der eigenen Identität. Unsere "Identitycard" - unsere Kennkarte - enthält ein Foto; vielleicht ist dieses Personalausweis-Foto die richtige Größe von dem Bild, das wir von uns haben sollten. Jedenfalls ist dieses Foto echt, ungeschminkt und unretuschiert. Es unterscheidet sich von dem Scheinbild, das wir wie schlechte Schauspieler früher uns selbst und anderen vorgespielt haben.

Was mache ich bei meiner Inventur?

Auch ohne Kaufmann zu sein, weiß man ungefähr, was die Geschäftsleute am Jahresende machen, wenn sie für einen Tag ein Schild an die Ladentür hängen "wegen Inventur geschlossen". Sie brauchen Ruhe, wenn sie hinter verschlossener Tür an die Bestandsaufnahme gehen. Der Kaufmann wird im Vergleich zur vorausgegangenen Inventur diejenigen Artikel herausfinden, die in seinem Geschäft unbrauchbar sind. Er wird sich von Ladenhütern trennen, weil sie ihn belasten und weil sie sein Vorankommen blockieren. Er wird Haltbarkeitsdaten überprüfen, auf Verderbliches besonders achten und Verdorbenes aussortieren. Er wird aber auch herausfinden, wo bei ihm die Stärken liegen und diese Seiten seines Handelns intensiver zu entwickeln bemüht sein.

Das alles trifft auch auf unsere Situation zu. Wir werden auch unsere Geschäftigkeit für kurze Zeit unterbrechen und mit dem Sortieren beginnen. Wir werden unser Leben Revue passieren lassen und herausfinden, wo unsere Schwächen und wo unsere Stärken liegen. Das Ergebnis dieser Untersuchung sieht wahrscheinlich bei jedem von uns anders aus. Wir alle werden merken, dass die Habenseite kein weißes Blatt zu bleiben braucht. Es ist nicht alles negativ an uns, jeder von uns kann auch einiges. Wir alle aber haben eins gemeinsam: Wir können ganz offensichtlich alle keinen Alkohol trinken. Denn wir werden herausfinden, dass an fast allen Schwierigkeiten und Widrigkeiten in unserem bisherigen Leben der Alkohol irgendwie beteiligt war.

Wenn uns die Inventur gottlob nicht nur Negatives offenbart, wenn sie uns im Gegenteil wieder Selbstwertgefühl zu geben imstande ist, dann macht sie uns auf der anderen Seite aber auch mit harter Konsequenz deutlich, dass wir mit Alkohol ganz offensichtlich nicht zurechtkommen. So gesehen, bestätigt uns die Inventur des Vierten Schrittes mit einer Fülle von Quittungen und Belegen das, was wir im Ersten Schritt schon zugegeben haben: unsere Kraftlosigkeit gegenüber dem Alkohol.

Wie mache ich Inventur?

Beim gründlichen Nachdenken über das bisherige Leben fragt man sich zwangsläufig auch, wie das alles gekommen ist, wie es einmal angefangen hat mit dem Trinken. Wir sind also bei dem Punkt, den man Ursachenforschung nennt. Wir erinnern uns an unser allererstes Glas, an den ersten Rausch. Wir wissen vielleicht auch noch die Beweggründe, aus denen heraus wir damals getrunken haben. Später und vor allem in der Schlussphase haben wir keine Anlässe mehr gebraucht, da haben wir uns ohnehin nur noch mit fadenscheinigen Ausreden selbst belogen.

Vielleicht finden wir heraus, dass wir als so genannte Erleichterungstrinker angefangen haben. Wir hatten gemerkt, dass mit Alkohol manches zunächst leichter zu bewältigen war. Aus dieser trügerischen Erfahrung haben wir dann immer häufiger zum Glas gegriffen, bis Ursache und Wirkung in unserem Unterbewusstsein längst verwischt waren. - Ein anderer mag herausfinden, dass bei ihm eigentlich Faulheit das Anfangsmotiv war. Das Glücksgefühl, das andere erreichen, indem sie etwas zustande bringen, ermogelte er sich ohne Leistung durch die Droge Alkohol. Bei unseren Inventuren, auch wenn wir später über das Ergebnis im Meeting sprechen, kommen sicher noch andere Anfangsmotivationen zutage. Darüber Bescheid zu wissen, kann im Prinzip nichts schaden, wenn man aus solcher Erkenntnis keine falschen Schlüsse zieht.

Erstens einmal wird man nie den Gesamtkomplex der Ursachen herausfinden, die zum Trinken geführt haben, höchstens Teilaspekte eines insgesamt sehr schwierigen Phänomens. Wir wissen also nichts Genaues über die Ursachen, wir ahnen höchstens, dass der Beginn unseres Trinkens möglicherweise mit diesem oder jenem Umstand in Zusammenhang stehen könnte. Zum zweiten wäre es verhängnisvoll, aus solchem Ahnen falsche Konsequenzen abzuleiten, etwa in der Richtung: Jetzt weiß ich, woran es gelegen hat, ich ändere das, beseitige nachträglich die Ursache (was ohnehin unmöglich ist), und kann dann normal trinken. Dem steht die wissenschaftlich erhärtete Erkenntnis entgegen, dass der einmal erreichte Status des Alkoholikers ganz unabhängig von allen Ursachen und deren Erkenntnis unveränderbar ist. Da kann man das Rad der Persönlichkeitsentwicklung nicht einfach zurückdrehen. Da bleibt nur die eine Konsequenz, den einmal erkannten Status: "Ich bin Alkoholiker" anzunehmen. Das nämlich, was diese Krankheit zur unheilbaren Krankheit macht, der Kontrollverlust, bleibt -selbst dann, wenn man glaubt, die Ursachen, aus denen heraus das Trinken irgendwann einmal angefangen hat, erkannt zu haben.

Aber wie machen wir nun unsere Inventur? Ganz sicherlich nicht, indem wir uns hinsetzen und die getrunkenen Gläser zusammenzählen und ausrechnen, wie viel Geld wir dafür ausgegeben haben. Es hat auch nichts mit der im Vierten Schritt empfohlenen Inventur zu tun, wenn wir völlig unnötig diesem Geld nachweinen. Das alles war gestern und zählt für unser neues Leben nicht mehr. Dieses Geld ist nur dann nicht völlig unnütz ausgegeben, wenn wir es Einschmelzen und ummünzen in Konsequenzen für unser neues Leben. Inventurmachen ist auch mehr als das Zusammentragen von Episödchen, um unsere Lebensgeschichte im öffentlichen Meeting erzählbarer zu machen. Wir müssen da schon ein bisschen tiefer nachschauen in unserem Innern und die Trümmer sortieren. Furchtlos sollten wir das machen, heißt es im Vierten Schritt. Das heißt doch wohl, dass wir die zum Schutz der feinen Hände angelegten Gummihandschuhe abstreifen und uns nicht scheuen, vor uns selbst alles freizulegen, was passiert ist und sich persönlichkeitsverändernd in uns festgefressen hat.

Wer aber setzt die Maßstäbe, nach denen wir sortieren? Wer gibt uns sozusagen den Beichtspiegel in die Hand, an dem wir ablesen können, was richtig und was falsch war? Die in der A.A.-Gemeinschaft immer wieder auftauchende und letztlich zu bejahende Frage drängt sich auf, ob es uns um mehr geht als um die Lösung des Trinkproblems. Damit sind wir wieder an einem Punkt, bei dem manche A.A.-Freunde unruhig werden und Gespenster, Schwierigkeiten sehen, wie immer, wenn A.A. mit der Höheren Kraft oder Dingen in Berührung kommt, in denen es verwandtschaftliche Bezüge zur Religion gibt. Sollen bei der Inventur die Maßstäbe christlicher Ethik oder humanistischer Idealvorstellungen gelten? Nimmt man die Zehn Gebote als Grundlage oder Goethes "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut"? - Wer sagt uns, was gut und schlecht ist, wo Erlaubtes aufhört und Verbotenes anfängt? Gibt es den Begriff der Sünde bei A.A. und damit im Vierten Schritt?

Sünde ist ein Begriff aus der Religion oder aus Religionen, mit denen A.A. laut Präambel nicht verbunden ist. Keine dieser Gemeinschaften kann hier für uns alle gleichermaßen geltende Maßstäbe und Normen setzen. Wer sich einem solchen Bekenntnis verbunden fühlt, kann mit den dort vorgegebenen Normen an seine Inventur herangehen. Wir alle aber können die Maßstäbe des Gewissens zur Grundlage der Inventur machen.

Ein guter Maßstab zur Beurteilung des eigenen Verhaltens ist die Erwartung, die man vom Handeln des anderen sich selbst gegenüber hegt. Wenn wir so handeln, wie wir gern von anderen behandelt werden, liegen wir schon ziemlich richtig. Dafür ein paar Beispiele: Wer ist schon gern belogen, betrogen, von anderen ausgenützt? In der Partnerschaft der Intimbeziehung von anderen zum Befriedigungsobjekt degradiert? Wer ist schon gern von oben herab behandelt, gehänselt oder ins Geschwätz gezogen? Uns selbst wird l unwohl, wenn andere übertrieben aufs Blech hauen, sich aufspielen, wenn sie uns ins Wort fallen und nur ihre Meinung gelten lassen. Niemand steht gern herum und wartet, wenn er verabredet ist. Wir möchten eigentlich, dass die anderen uns gegenüber pünktlich, korrekt, ehrlich, höflich und tolerant sind.

Wenn wir solche Erwartungshaltungen zur Grundlage eigenen Handelns machen, arbeiten wir an uns selbst. Wenn wir solche Erwartungshaltungen, die wir uns im neuen Leben sehr schnell angewöhnen, als Maßstäbe nehmen, um unsere eigenen Vergangenheit auf Soll- und Habenseiten zu sortieren, dann machen wir Inventur.

Inventur aber kann nur den Sinn haben, daraus Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Wenn wir nun die Hauptfelder unserer Fehlhaltungen kennen, werden wir das Unkraut nach und nach jäten und Feld für Feld frisch einsäen. Kontrollmöglichkeit darüber, wie wir hier Stück für Stück vorankommen, bietet uns ein anderer A.A.-Schritt, der zehnte, in dem auch von der Inventur - von der täglichen - die Rede ist.


DER FÜNFTE SCHRITT

Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.

Die im Fünften Schritt gegebene Empfehlung liest sich leichter, als sie zu bewerkstelligen ist. Wieder wird uns etwas angeraten, was uns zunächst ziemlich arg gegen den Strich geht.

Wir sollen mit einem anderen über uns reden und daraus Nutzen ziehen. Skepsis wird wach, Erinnerungen an die Trinkerzeit, in der wir oft enthemmt und unkontrolliert bereit waren, all unseren vorhandenen oder vermeintlichen Kummer anderen vorzulabern. Ob der andere das nun gerade hören wollte oder nicht, darauf nahmen wir keine Rücksicht. Diese wehmütigen, selbstzerfleischenden Geständnisse, die wir übertreibend abspielen ließen und wiederholten wie eine Schallplatte, die in einer Rille hängt, haben nie den erwarteten Erfolg gehabt. Am Ende eines solchen Gespräches waren wir einsamer als vorher. Traurig und weinerlich saßen wir vor dem nächsten Glas.

Befreiung aus der Isolation

Der trinkende Alkoholiker wird mit Fortschreiten seiner Krankheit einsamer. Je mehr er sich dem Tiefpunkt nähert, umso mehr ist er allein. Auf fortgesetztem Rückzug in das Schneckenhaus der Isolation gibt es noch gelegentliches, aber immer schwächer werdendes Aufbäumen. Selbst wenn der Alkoholiker hin und wieder noch am Stammtisch aufgeduldet wird, selbst wenn er manchmal noch beim Kartenspiel mitmachen darf, im Grunde haben sich die anderen von ihm distanziert. Sie trinken zwar alle auch gern und häufig, aber nicht so wie der oder die da. Das schlechte Gewissen derer, die auch trinken, sucht sich in dem seinen Sündenbock, für den der Alkohol zum echten Problem geworden ist. Auf diesen kann man verächtlich herabschauen, mit ihm kann man sein Gewissen beruhigen: "So weit wie der bin ich ja Gott sei Dank noch nicht".

Dieser feindlichen Haltung der Umwelt kann der Alkoholiker keinen Widerstand mehr entgegensetzen. Er resigniert und zieht sich zurück. Er ist allein, auch wenn man ihm mit konventionellen Freundlichkeitsfloskeln begegnet und ihn manchmal auf Partys mit herumstehen lässt. Vielleicht ahnt er bei solchem Anlass das Ausmaß seiner Einsamkeit, wenn bei einem seiner Scherze dem anderen das bis dahin gnädige Lächeln zur Grimasse erstarrt. In lichten Augenblicken wird er auch bei der häuslichen Feier die ihm angediehene Sonderbehandlung spüren, wenn er- vorzeitig zu Bett gebracht - nach dem Ausschlafen der Rauschphase hört, dass die anderen immer noch feiern.

Zum Leidensweg des Alkoholikers im Verlauf seiner Krankheit gehört neben der zunehmenden Isolierung auch die wachsende Abhängigkeit. Mehr und mehr entgleiten ihm früher wahrgenommene Aufgaben. Von Tag zu Tag steckt er die Grenzpfähle seines Einflussbereiches mehr zurück. Der oder die andere übernimmt seine Pflichten. Der Partner erledigt die Behördengänge, fährt das Auto, erzieht die Kinder, geht in die Elternsprechstunde, führt Haushaltskasse und Bankkonten, macht die Kleinreparaturen im Haushalt, schreibt alle Briefe, geht allein, wenn eigentlich beide eingeladen waren. Der Alkoholiker ist unmündig geworden.

Und jetzt bei den Anonymen Alkoholikern ist er eingeladen und aufgefordert zu sprechen. Da sind welche, die ihm zuhören wollen, die ihn ernst nehmen, die sich freuen, wenn er spricht. Da sind Freunde, die ihm nicht ins Wort fallen, die nicht abschätzig und herablassend grinsen, wenn er zweimal dasselbe sagt, wenn er mit einem langen Satz nicht recht zu Rande kommt oder ein Fremdwort falsch ausspricht. Bei den Anonymen Alkoholikern darf er den Mund aufmachen; er ist gleichberechtigt; er ist im wahrsten Sinne des Wortes wieder mündig.

Jetzt ist er auch nicht mehr einsam. Für viele Alkoholiker zählt es zu den beglückendsten Augenblicken, wenn sie zum ersten Mal in dieser Gemeinschaft spüren, dass sie dazugehören. In den Anfangswochen schwindet die Skepsis des in der Isolation scheu gewordenen Alkoholikers. Von Meeting zu Meeting wächst das Staunen über die vorbehaltlose Aufnahme- und Annahmebereitschaft, die man ihm entgegenbringt. Hoffnung wächst, wenn er hört, dass andere Ähnliches erlebt und einen Ausweg gefunden haben. Es sind die Wochen, in denen der Neue überwiegend zuhört, in denen er zweifelt, fragt und hofft. Denn nur, wenn er nicht mehr trinken will und seine Hoffnung und seinen Glauben in die Kraft dieser Gemeinschaft setzt, wenn er dazu vorbehaltlose Bereitschaft mitbringt, wird er aus der Kraft dieser Gemeinschaft für sich Nutzen ziehen können.

Aber diese Anfangswochen liegen hinter uns. Wir sind beim Fünften Schritt. Auf dem Tiefpunkt unseres Leidens haben wir im Ersten Schritt unsere Kraftlosigkeit gegenüber dem Alkohol zugegeben. Wir haben erkannt, dass wir mit eigener Kraft nicht aus diesem Sumpf herauskommen würden. Wir haben erkannt, dass es dazu einer größeren Kraft bedarf. Das hat uns zum Ablegen unserer Großmäuligkeit veranlasst. Bescheidener geworden, spürten wir voll Dankbarkeit erste Aufwärtsentwicklungen in unserem nun völlig anderen Leben. Aus der Gewissheit, dies nicht allein erreicht zu haben, erkannten wir den zupackenden Eingriff einer Höheren Kraft in unser Leben. Denjenigen, der so beglückend in unser Leben eingegriffen, der das Steuer herumgerissen hatte, waren wir bereit, fortan als Partner in unserem Leben zu akzeptieren. Diesem Gott, wie wir ihn verstehen, wie jeder einzelne von uns ihn versteht, vertrauten wir im Dritten Schritt unseren Willen und unser Leben an.

Zum Vierten Schritt objektiver Selbsteinschätzung sind wir in uns gegangen; wir haben uns irgendwohin zurückgezogen, um in Ruhe Inventur zu machen. All das aber haben wir weitgehend allein gemacht. Unter diesem Gesichtspunkt beginnt mit dem Fünften Schritt ein neuer Abschnitt im A.A.-Programm und damit in unserer Entwicklung. Erstmals legt man uns nahe, andere aktiv in diesen Prozess mit einzuschalten. Und darin liegt die Schwierigkeit dieses Schrittes. Es wird uns etwas empfohlen, wogegen wir uns - wie eingangs gesagt - zunächst sträuben. Warum sollen wir eigentlich mit einem anderen über uns sprechen?

Geständnis und Freispruch

Nach der Inventur des Vierten Schrittes wissen wir ziemlich genau über uns Bescheid. Aber kaum haben wir den Bretterverschlag vor dem Keller unserer inneren Unordnung aufgebrochen, so meldet sich in uns der Gedanke, es dabei bewenden zu lassen. Es ist natürlich bequemer zu sagen: "Das war ja alles gestern" und damit zur Tagesordnung überzugehen. Im Höchstfall suchen wir uns ein paar von diesen grauenvoll munteren Anekdoten heraus, um endlich im Meeting auch mal schön eine Lebensgeschichte erzählen zu können.

So kann man verfahren; man hat aber dafür eigentlich nicht die Inventur des Vierten Schrittes gemacht. Mit dem Erzählen einiger Episoden aus der Trinkerzeit ist nicht das vollzogen, was im Fünften Schritt empfohlen wird. In der Rumpelkammer unserer inneren Unordnung lagern nämlich nicht nur die Kapitel unserer Lebensgeschichte, die sich im Meeting so flüssig erzählen lassen. Da sind auch Dinge, die man am liebsten für sich behalten möchte. Da gibt es möglicherweise unter Alkoholeinfluss begangene Taten, die außerhalb der Gesetze liegen; es gibt Abschnitte oder Ereignisse, deren man sich schämt.

Da muss aus- und aufgeräumt werden. Wenn in der Trinkerzeit Unehrlichkeit zur Grundhaltung geworden ist, wenn uns die Sucht unlauter gemacht hat und wir mal aus der Spardose der Kinder, mal aus dem Schnapsregal des Supermarktes gestohlen haben, dann können wir darüber ebenso wenig den Mantel des Vergessens breiten wie über die Entgleisungen und Egoismen im sexuellen Bereich. Wir können vorgefundene, klar erkannte Schuld nicht in uns hineinfressen. Wer sich entschließen würde, mit solchem Ballast weiterzuleben, würde davon unweigerlich zurückgezogen werden in die Sucht und bald wieder trinken. Was aber ausgesprochen ist, kann drinnen nicht mehr krank machen.

Deshalb nämlich sagen uns erfahrene A.A.-Freunde immer wieder, dass es nicht damit getan ist, das Glas wegzustellen, das zu einem Leben in zufriedener Nüchternheit mehr gehört. Wenn uns im Vierten und im Fünften Schritt empfohlen wird, klar Schiff zu machen, dann genügt dazu nicht ein verschwommenes Ahnen und halbherziges Eingeständnis, dass einiges früher nicht in Ordnung war. Wer Fehlhaltungen erkennt, sie für Augenblicke aus der Tiefe des Unterbewusst-Seins hervorholt und sofort wieder zurückgleiten lässt, geht den bequemen und verhängnisvollen Weg, seine eigenen Fehler zu verdrängen. Weil sie ihn dennoch irgendwie verschwommen bedrücken, wird er sie immer sofort hellwach bei anderen entdecken und dann besonders empfindlich und unnachsichtig reagieren. Er verhält sich dann so, wie die vom eigenen schlechten Gewissen geplagte Gesellschaft dem Alkoholiker gegenüber auftritt.

Es genügt demnach nicht, die Unordnung in uns entdeckt zu haben, wir müssen auch Ordnung schaffen. Und da lehrt nun einmal eine alte Erfahrung, dass zum Erkennen am zweckmäßigsten auch das Bekennen kommen sollte. Jeder von uns hat schon gemerkt, dass ein Problem oft halb gelöst ist, wenn man erst einmal mit einem anderen darüber gesprochen hat. Diese befreiende, erlösende Wirkung des Gesprächs soll unsere Inventur nutzbringend vervollständigen. Ohne dass wir in dem Gesprächspartner einen Richter sehen, weil ihm diese Funktion nicht zukommt, werden wir spüren, dass unser Geständnis dennoch mit einem Freispruch endet, weil wir uns selbst freigesprochen haben. Dabei ahnen wir, dass uns vergeben werden kann; was eine Erfahrung ist, die uns selbst befähigt, anderen zu verzeihen. Die Erkenntnis, dass das Eingeständnis von Fehlhaltungen frei macht, ist älter als die Anonymen Alkoholiker. Man denke daran, dass es im konfessionellen Bereich Beichten gibt, dass die Wartezimmer von Psychotherapeuten voll sind von Leuten, die dort auf die Couch wollen, um sich alles von der Seele zu reden.

Wer ist "der andere"?

Im Fünften Schritt heißt es nun, dass wir Gott gegenüber unsere Fehler unverhüllt zugeben sollen. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, nachdem jeder von uns etwa ab dem Dritten Schritt bereit war, denjenigen, der ihm aus der Suchtverstrickung geholfen hat, als Partner in sein Leben hineinzunehmen. Bei vorausgegangenen Betrachtungen über den "Gott, so wie wir ihn verstehen", war die Rede davon, dass sich diese "Kraft, größer als wir selbst" mannigfach offenbaren kann. Die Schlüssel-Erlebnisse, das heißt die Augenblicke, in denen das Verständnis und die Erkenntnis eines jeden für Gott, wie er ihn versteht, aufgeschlossen worden ist, sind sehr unterschiedlicher Art. Vielen von uns ist Gott in einem anderen Menschen begegnet, in dessen Güte, Liebe, Verständnis, in dessen Strenge oder Langmut, in dessen Verzeihen. Aus dieser Sicht betrachtet, empfiehlt uns der Fünfte Schritt keine Dreiteilung des Geständnisses. Indem wir nämlich aufrichtig und unverhüllt "einem anderen Menschen gegenüber" unsere Fehler eingestehen, legen wir dieses Geständnis auch vor dem Gott, so wie wir ihn verstehen, und vor uns selbst ab.

Machen wir also einen anderen Menschen zu seiner und unserer Vertrauensperson. Wen sollen wir dafür auswählen? Nun, auch dafür gibt es in A.A. keine festen Regeln. Überlieferte Erfahrungen zum Fünften Schritt empfehlen, dass man sich den Gesprächspartner innerhalb der Gemeinschaft suchen sollte. Dabei hätte die Wahl am zweckmäßigsten auf jemanden zu fallen, der schon einigen Abstand zu seiner Trinkerzeit gewonnen hat. Es sollte möglichst jemand sein, der nicht selbst bis über den Hals in eigenen Problemen steckt.

An dieser Stelle soll keine der Möglichkeiten, den Fünften Schritt zu vollziehen, einem Werturteil unterzogen werden. Es seien nur einige Möglichkeiten aufgezeigt.

Die Auswahl eines A.A.-Freundes mit einigen vierundzwanzig Stunden Trockenheit bietet den Vorteil, dass man auf grundsätzliches Verständnis stößt, zumindest was die eigentliche Sucht und die damit verbundenen Exzesse betrifft. Bei der Auswahl eines A.A.-Freundes als Gesprächspartner sollte man das voraussetzen, was andere zur Entscheidung für den Arzt oder den Geistlichen Anlass gibt: Verschwiegenheit. Nicht ganz im Sinne des Fünften Schrittes ist es möglicherweise, wenn jemand als den dort empfohlenen "anderen Menschen" seinen Partner nimmt, "weil der ja ohnehin alles weiß". Denn der Fünfte Schritt meint sicher, dass wir uns überwinden sollten und einem uns relativ fern stehenden Menschen über unsere Vergangenheit erzählen sollten.

Beim Spaziergang

Möglich ist es auch, das Geständnis aufzustückeln, das heißt Einzelaspekte verschiedenen Personen anzuvertrauen. Das aber hat ein bisschen den Geruch von Stückwerk an sich. Die , Gefahr liegt darin, dass man einiges mit dem Arzt, anderes mit dem Partner, wieder anderes mit dem Priester, dem Sponsor oder mit irgendjemandem bespricht, dass man einiges in der Gruppe erzählt und den Rest dann doch für sich behält.

Wenn diese Schrift Anregungen zu den einzelnen Schritten enthält, so sei hier die Empfehlung erlaubt, auch diesen Teil des Programms bewusst und gezielt zu vollziehen. Wie wäre es beispielsweise, wenn man sich mit dem A.A.-Freund, der | Vertrauen verdient, zu einem Spaziergang verabredet? Dabei lässt es sich gut reden.

Diese Art, den Fünften Schritt zu machen, ist sicherlich wirkungsvoller als tröpfchenweise Geständnisse immer auf der Heimfahrt nach dem Meeting. Sicher kann man es auch so machen und eines Tages dabei feststellen, dass damit der i Fünfte Schritt eigentlich erledigt ist. Aber wir wollten es uns doch nicht mehr so bequem machen und uns um die Dinge herummogeln.

Vertauschte Rollen

Wer sich zum Fünften Schritt entschließt, braucht dazu keinen großen Anlauf zu nehmen. Es ist auch völlig unnötig, zu der Verabredung mit dem Freund des Vertrauens ein Büßerhemd anzuziehen. Das Gespräch vollzieht sich unter Partnern, unpathetisch, ohne extreme Wallungen von Zerknirschtheit oder Großsprecherei. Es müssen dabei keine Tränen fließen; wer aber dennoch in der Rückerinnerung feuchte Augen bekommt, braucht sich dessen nicht zu schämen.

In die Rolle des "anderen Menschen", von dem im Fünften Schritt die Rede ist, können wir alle einmal kommen. Kaum jemand von uns wird den Freund abweisen, der mit ihm sprechen will. Es ist ein großer Vertrauensbeweis, der uns damit entgegengebracht wird. Allgemeine menschliche Anständigkeit und erst recht die Traditionen der Anonymen Alkoholiker machen es selbstverständlich, dass man dieses Vertrauen rechtfertigt durch absolute Verschwiegenheit. Man muss schweigen können, wenn man diese Rolle übernimmt. Wer seine Geschwätzigkeit aus der Trinkerzeit noch nicht abgelegt hat, soll nein sagen, wenn sich ihm ein A.A.-Freund anvertrauen will.

Schweigen können aber muss man auch schon während des Gesprächs. Der andere will und hat etwas zu sagen. Die Tugend des Zuhörenkönnens, durch Übungen der Toleranz und im Meeting geschult, kommt hier zum Tragen. Nur gelegentlich wird es notwendig und passend sein, den Gesprächspartner durch kurze Einwürfe, durch das Einflechten eigener Erfahrungen zum Weitersprechen zu ermuntern, ihm Mut, Hoffnung, Trost und Kraft zu vermitteln.

A.A. hat keine Posten und Ämter zu vergeben. Die große, ehrenhafte und verantwortungsvolle Aufgabe, die jemandem in dieser Gemeinschaft zufallen kann, ist die des Gesprächspartners für einen Freund, der den Fünften Schritt vollziehen will.

Denn schon mancher Anonyme Alkoholiker hat im Fünften Schritt zu seinem Gott gefunden.


DER SECHSTE SCHRITT

Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.

Im Programm der Anonymen Alkoholiker sind alle Schritte innerlich voneinander abhängig. Je mehr man sich mit diesem Programm beschäftigt, desto deutlicher wird auch, dass diese Schritte einen ineinandergreifenden Bezug haben und dass sie logisch aufeinander aufbauen. Fundament ist dabei der unverzichtbare Erste Schritt, ohne dessen ehrlichen Vollzug wir unsere Sucht nicht zum Stillstand gebracht hätten.

Immer wieder kommt man deshalb auch im Nachdenken über die Schritte zwei bis zwölf auf die Eingangsvoraussetzung des Ersten Schrittes zurück, denn wer nicht mit der auch im Ersten Schritt empfohlenen Vorbehaltlosigkeit seine Kraftlosigkeit dem Alkohol gegenüber zugegeben hat, der kann den geraden Weg der übrigen Schritte nicht gehen. Er torkelt im Programm, wie er früher in seiner nassen Zeit getorkelt ist.

Wer im Geheimen seine Ohnmacht gegenüber dem Alkohol für einen zeitlich begrenzten Zustand, für ein vorübergehendes Versagen hält, der lässt sich Hintertürchen offen und programmiert damit den Rückfall vor, der unweigerlich, wenn auch vielleicht erst einige Zeit später, eintritt.

Deshalb ist im Meeting oder bei der privaten Beschäftigung mit dem Programm die gedankliche Auseinandersetzung über jeden der dem Ersten Schritt folgenden Punkte immer wieder in Bezug gesetzt zu diesem Ersten Schritt. Dort heißt es, dass wir neben dem Eingeständnis unserer Kraftlosigkeit dem Alkohol gegenüber auch zugegeben haben, dass wir unser Leben nicht mehr meistern konnten. Im englischen Originaltext heißt es, wir haben zugegeben, dass unser Leben "unmanageable" geworden ist. Dieses schwer zu übersetzende Wort meint so etwas in der Richtung, dass unser Leben unlenkbar, unregierbar, unmachbar geworden ist, dass es uns aus der Hand geglitten ist, dass wir das Leben - wie es in der offiziellen Übersetzung heißt - nicht mehr meistern konnten. "So hätte ich nicht weiterleben können", sagen oft Freunde, wenn sie an diese Stelle ihres Lebensberichtes kommen. Manchmal fügen sie an: "Ich wäre kaputt gegangen; wahrscheinlich würde ich überhaupt nicht mehr leben, wenn ich damals nicht ausgestiegen wäre."

Hier ist die Rede von dem Augenblick unserer Entwicklung, den die Amerikaner "surrender" nennen. "Surrender" ist ein Tätigkeitswort, das der Kleine Langenscheidt mit "sich ergeben" übersetzt. Größere Wörterbücher geben dafür wahlweise noch die deutschen Wörter "sich ausliefern", "aufgeben" an. Surrender als Hauptwort heißt Übergabe, Ergebung, Kapitulation.

Kapitulieren muss derjenige, der in einer Auseinandersetzung mit seinen Mitteln am Ende ist, wer sein Pulver verschossen hat, während der Gegner noch über Waffenarsenale verfügt. In unserem Fall heißt das, dass wir eines Tages zur Aufgabe im hoffnungslos gewordenen Anrennen gegen unsere Sucht gezwungen waren.

Das Eingeständnis eigener Kraftlosigkeit fällt niemandem leicht. In Bezug auf den Alkohol ist uns dieses Eingeständnis durch die niederdrückenden Folgen der Sucht schließlich sozusagen aufgezwungen worden. Tragisch und fatal ist es dabei für denjenigen, der nur halbherzig kapituliert, weil er sich nach einigen Tagen der Abstinenz körperlich schon wieder so fit fühlt, dass er den sinnlosen Kampf erneut aufzunehmen bereit ist. Aber gehen wir davon aus, dass wir völlig kapituliert haben, was den Alkohol betrifft. Gehen wir auch davon aus, dass uns diese Kapitulation Anlass und Ausgangspunkt zu einer bisher erlebten Reihe von trockenen vierundzwanzig Stunden geworden ist. - Das ist schon viel, damit ist schon eine Menge erreicht, aber nicht alles, nicht das, was uns auf die Dauer abstinent halten und in ein neues, zufriedenes Leben führen kann.

Leben wie früher?

Die Kapitulation, die sich ausschließlich auf den Alkohol beschränkt, ist eine halbe Sache. Sie wäre vergleichbar der Einstellung der Kampfhandlungen an nur einer Front. Es hat sich nämlich als unmöglich erwiesen, das Suchtproblem nur dadurch zu lösen, dass man das Suchtmittel meidet. "Ich will und werde nicht mehr trinken", hat neulich ein Fünfunddreißigjähriger im Meeting gesagt: "Das genügt mir; im übrigen will ich wieder genauso leben wie vor zehn Jahren, wie ich gelebt habe bis zu dem Zeitpunkt, als mein Trinken problematisch wurde."

Zu diesem Diskussionsbeitrag ist zu sagen, dass die Absicht, nicht mehr zu trinken, so wie es sich dieser Freund vorstellt, nicht realisierbar ist. Erstens einmal ist es überhaupt unmöglich, die Lebensuhr zurückzudrehen, zehn Jahre Trinkerzeit auszuradieren. Aber selbst wenn es diesem 35 Jahre alten Mann gelänge, den Faden dort anzuknüpfen, wo er ihm als Fünfundzwanzigjährigem gerissen ist, was wäre dann mit ihm? - Er wäre dann an dem Punkt, an dem - um seine eigenen Worte zu gebrauchen - sein Trinken problematisch geworden ist. Könnte er also die damaligen Umstände seines Lebens im persönlichen und beruflichen Bereich spiegelbildlich gleich wieder herstellen, dann wäre er genau wieder an der Schwelle seiner Trinkerzeit.

Und noch ein Argument gegen die Theorie des Wiederanknüpfens an die Vortrinkerzeit. Der Freund, von dem hier als Beispiel die Rede ist, kann und darf gar nicht zehn Jahre zurückschalten. Er hat davon gesprochen, dass sein Trinken damals problematisch geworden ist. Das heißt doch, dass er bis dahin auch getrunken hat, wenngleich nach seiner rückschauenden Beobachtung kontrolliert. Das beispielsweise wird er jetzt nicht mehr können, nachdem er sich als Alkoholiker erkannt hat und weiß, dass das erste von ihm getrunkene Glas den Rückfall einleitet.

Kapitulation an allen Fronten

Das Eingeständnis der Niederlage, das uns im Ersten Schritt empfohlen wird, geht über die Kampf-Einstellung an der Alkoholfront hinaus. Wir geben im Ersten Schritt nämlich zu, dass unser Leben kein Fundament mehr hatte. Der Alkohol, der über lange Zeit zum beherrschenden Mittelpunkt all unserer Lebensbeziehungen und Lebensäußerungen geworden ist, hat m uns tiefe Spuren, ja Wunden geschaffen. All das, was er angerichtet hat, geht nicht automatisch weg, heilt nicht von allein, nur weil wir jetzt nicht mehr trinken. Wenn es in einem Haus brennt, genügt es nicht, das Feuer zu löschen. Wenn die Flammen erstickt sind, ist das Haus noch nicht wieder bewohnbar. So ist das auch mit unserer Sucht. Wenn wir den Alkohol weglassen, lodert zwar in uns nicht mehr die Sucht, aber es sieht wie nach einer Feuersbrunst in uns doch ziemlich wüst aus.

Das wissen wir spätestens seit der umfassenden Inventur, die uns der Vierte Schritt empfohlen hat. Noch deutlicher ist uns das geworden, als wir in Vollzug des Fünften Schrittes darüber mit jemand anderem gesprochen haben. Auch dem Gott, der Großes an uns getan hat, indem er uns die Chance des Aufhörenkönnens vermittelt hat, haben wir im Fünften Schritt unsere Fehlhaltungen offen zugegeben. Mit ihm, dem Gott, so wie ihn jeder einzelne von uns für sich versteht, und mit den Vertrauenspersonen des Fünften Schrittes aber haben und konnten wir nur über die uns bewusst gewordenen Fehler reden.

Was aber ist mit all dem, was sich tief im Unterbewusstsein eingeschlichen hat? Erschrecken wir nicht manchmal, wenn da wieder etwas auftaucht und uns zu schaffen macht, was uns bisher noch gar nicht so deutlich bewusst geworden war? Manche solcher Fehlhaltungen haben ihre Wurzeln in der frühen Kindheit. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Hang zur Überheblichkeit, etwas Besseres sein zu wollen als die anderen, mag daher rühren, dass man dazu erzogen worden ist, in der Schule besser zu sein als die anderen. Viele solcher frühen Prägungen haben sich in uns festgesetzt und offenbaren sich später als intolerante Vorurteile oder egoistische Verhaltensweisen. Nur ein Bruchteil von all dem aber wird uns bewusst. Manches nehmen wir einfach als gegeben hin, und meinen entschuldigend, dass es zu unserer Wesensart gehört. Unser gesamtes Verhalten, im Positiven wie im Negativen, ist einem Eisberg vergleichbar, von dem man bekanntermaßen nur ein Siebentel an der Oberfläche sieht. Nur ein solcher Bruchteil unseres Wesens, auch unserer Fehlhaltungen, ist uns bewusst, das heißt, wird von uns gedanklich erfasst. Der Rest, der größere Teil unseres Ichs und Seins, vollzieht sich im Unterbewusstsein und damit im schwer beeinflussbaren Bereich unseres Wesens. Durch Training, durch Nachdenken, durch die im zehnten Schritt empfohlene, fortgesetzte, kontrollierende Inventur kann man einiges aus dem Unterbewusstsein in gedanklich fassbare Bereiche hervorheben, aber sicherlich nicht alles.

An dieser Stelle setzt nun die Empfehlung des Sechsten Schrittes ein. Er legt uns nahe, uns der Hilfe des Partners zu bedienen, den wir im Dritten Schritt in unser Leben hineingenommen haben. Erinnern wir uns ein wenig an den Dritten Schritt. Nach einiger Zeit der uns fortgesetzt glücklicher machenden Abstinenz hatten wir voll Dankbarkeit anerkannt, dass wir dies nicht allein zuwege gebracht hatten. Wir einigten uns auf das gemeinsame Wort "Gott" für das Phänomen, das da so ordnend und uns offenbar liebend in unser Leben eingegriffen hatte. Dabei blieb es jedem von uns überlassen, diesen Gott für sich zu interpretieren. Diesem Gott, so wie wir ihn verstehen, galt Dankbarkeit, er verdiente Vertrauen.

Nachdem wir im Vierten und Fünften Schritt die dunklen Stellen dieses Lebens durch Inventur und Geständnis deutlicher vor uns sehen, nachdem wir aber auch ganz deutlich spüren, dass wir längst nicht alle verborgenen Fehler aufgedeckt haben, empfiehlt uns der Sechste Schritt ein weiteres: Vorbehaltlos bereit sein sollen wir, heißt es dort. Gemeint ist wieder, dass wir keine Einschränkungen machen, keine Hintertürchen offenlassen. Der als Partner in unser Leben genommene Gott soll unsere Fehler von uns nehmen. Gemeint sind die Fehlhaltungen, die uns deutlich im Bewusstsein sind, aber auch die, die uns überhaupt noch nicht so richtig klar vor Augen stehen. Die Vorbehaltlosigkeit unserer Bereitschaft schließt auch die Fehler ein, die wir eigentlich gern behalten möchten, die wir als kleine Schwächen abtun, die angeblich unseren Charme ausmachen, mit denen wir kokettieren, etwa nach dem Motto "wir sind alle kleine Sünderlein".

Kein Bittgebet

Der Sechste Schritt ist kein Bittgebet. Er ist keine Erwachsenen-Formel für den Kindervers: "Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!" Er ist vielmehr eine Forderung, und zwar nicht eine an Gott gestellte Forderung, sondern eine Herausforderung unserer selbst. Wir sollen zuerst etwas tun, nämlich vorbehaltlos bereit sein. Uns wird geraten, Vertrauen zu investieren in denjenigen, der unser ganzes bisheriges Leben, auch das in der schlimmen Zeit der Suchtverstrickung, schützend gelenkt hat.


DER SIEBTE SCHRITT

Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.

Eigene Erfahrungen und Beobachtungen zugrundelegend, eingangs die Bemerkung, dass der Siebte Schritt wahrscheinlich der Rekord-Schritt im Programm der Anonymen Alkoholiker ist: Rekord, weil er am seltensten behandelt wird.

Gruppenvorhaben, ein Jahr lang Monat für Monat Schritt für Schritt zum Meetings-Schwerpunkt zu machen, verrinnen im Juli wie Quellwasser im Sand. Bis Schritt sechs ist man gekommen, dann beginnt die Urlaubszeit, vielleicht kommt ein Gruppensprecher-Wechsel hinzu, und schon hat man Vorwände, den Siebten Schritt mal wieder unter den Tisch fallen zu lassen.

Demut - nicht auf den Knien

Und alles wegen des einen einzigen Wortes "Demut". Offensichtlich ist dieses Wort so sperrig, dass es nicht in unseren Kopf passen will; es ist so unhandlich und unmodern, dass es auch im Meeting niemand gern aufgreift. Dies fällt den Männern unter uns Alkoholikern noch schwerer als den A.A.-Frauen. In der durch Erziehung und Tradition geprägten Gesellschaft mit ihren klischeehaften Normvorstellungen und Rollenzuteilungen ist Demut allenfalls etwas für Frauen. Mach' die Probe aufs Exempel, und gib der Gruppe zehn Begriffe, von denen jeweils zwei einander zuzuordnen sind, verwende dabei unter anderem Tapferkeit, Demut, Nonne und Ritter (und sechs andere Begriffe): Du wirst sehen, dass die Mehrzahl der Mitspieler mit derselben Sicherheit die Demut der Nonne zuordnet wie die Tapferkeit dem Ritter.

Und genau das ist falsch. Unsere Zeit hat die Tugend der Demut (ähnlich wie beispielsweise auch die "Barmherzigkeit") in ein solch falsches Fach gelegt oder gar als unmodern ganz aussortiert. Das ist ein Zeichen, wenn nicht ein Krankheitssymptom der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert.

Doch hier soll nicht ins Allgemeine abgeglitten werden hier geht es um den Siebten Schritt im Programm der Anonymen Alkoholiker, der sich vielen von uns als schwer überspringbare Hürde in den Weg stellt. Wenn man mit einem Wort wie beispielsweise mit dem Wort Demut solche Schwierigkeiten hat, dann kann es von Nutzen sein, den Begriff aus dem Zusammenhang zu reißen und für sich allein zu betrachten. Ein Wort, mit dem man zunächst nichts anzufangen weiß, öffnet sich leichter, wenn man fragt, was damit eigentlich gemeint ist, wo es ursprünglich herkommt. Im Wort Demut steckt als Hauptbestandteil das Wort Mut. Mut aber war ursprünglich nicht so etwas wie Tapferkeit und Stärke, im früheren Sprachgebrauch war Mut ein anderes Wort für Geist, für Gesinnung. "Mir ist nicht danach zumute", sagte man, was doch soviel heißt, mir steht der Sinn nicht danach. Die Silbe "De" in Demut hieß im Mittelhochdeutschen "Dio", was soviel heißt wie der Gefolgsmann, der Ritter. Also ist Demut nichts anderes als die Gesinnung des Gefolgsmannes, die Tugend des Ritters. Da steckt also in diesem Wort etwas drin wie Treue, Gefolgschaft; das Gegenteil jedenfalls von Wortbrüchigkeit und Überheblichkeit.

Wenn wir uns so an den Siebten Schritt herantasten, dann spüren wir, dass er nichts anderes ist als die schnurgerade Fortsetzung des Weges, den wir mit den sechs vorausgegangenen Schritten angetreten haben. Der Siebte Schritt empfiehlt uns nichts, was über unsere Kräfte geht, nichts, was außerhalb unseres bisher schon bekundeten Wollens läge.

"Ihm" den Vortritt lassen

Im Prinzip ist der Siebte Schritt nichts anderes als die Wiederholung und Bekräftigung der uns allen mittlerweile zuteil gewordenen Einsicht, dass wir nicht die "Größten" sind. Demut in dem Sinn des derzeitigen Wortgebrauchs, der deshalb ein wenig anrüchig ist, weil er im Prinzip falsch ist, solche Demut hat von uns schon der Erste Schritt verlangt.

Aber die Demut des Ersten Schrittes war noch gut zur Hälfte werden, das uns in der Unfreiheit und der Isolation der Sucht oft widerfahren ist. Das Eingeständnis der Kraftlosigkeit ist uns vielfach aufgezwungen worden durch die unerbittliche Härte des "Ich kann nicht mehr". Wenn aber im Ersten Schritt aktive Demut hinzugekommen ist, dann war er das, was die Amerikaner "Surrender" nennen, dann war er Eingeständnis der Niederlage, dann war der Erste Schritt die bedingungslose Kapitulation mit der Bereitschaft, sich helfen zu lassen.

So wurde die von uns im Ersten Schritt aktiv aufgebrachte Demut der Schlüssel für die nächsten Schritte im Programm der Anonymen Alkoholiker. Dankbarkeit und Demut haben uns zu dem Glauben kommen lassen, "dass eine Kraft, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann", wie es im Zweiten Schritt heißt.

Wenn auch das Wort Demut im Dritten Schritt nicht genannt ist, so ist doch dieser Punkt unseres geistigen Programms eigentlich mit der Überschrift "Demut" zu versehen. "Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir ihn verstehen - anzuvertrauen"; - so der Dritte Schritt. Er besagt doch nichts anderes, als dass wir denjenigen, der uns so hilfreich aus einem Suff im verkorksten Dasein in ein Leben beginnender zufriedener Nüchternheit geführt hat, künftig ans Steuer lassen. Weil wir überzeugt sind, dass er uns nicht in einem einmaligen launigen Aufwallen jovialer Güte aus dem Sumpf gezogen hat, um uns künftig allein und damit wieder zurückrutschen zu lassen, weil wir seine lenkende Hand im Nachhinein auch in der schlimmen Zeit erkannt haben, deshalb überlassen wir ihm fortan die Kommandobrücke. Das ist ein toller Entschluss, sich unter solche Führung ins zweite Glied einzuordnen. Deshalb stand einleitend in diesem Kapitel der Ausflug ins Mittelhochdeutsche, weil Demut im wahrsten und eigentlichen Wortsinn "die Gesinnung des Gefolgsmannes" ist. Und das ist fürwahr eine männliche Tugend, was nicht heißt, dass es eine ausschließlich männliche Tugend ist. Der Hinweis scheint aber notwendig, weil Demut allgemein für ein weibliches Attribut gehalten wird.

Mut zum Dienen

Das "De" in Demut ist ein Hauptwort; von dessen mittelhochdeutscher Ursprungsform "Dio" gab es auch ein Tätigkeitswort, "dionon", woraus im Laufe der Zeit unser heutiges Wort dienen geworden ist. Ursprünglich drückte dieses Wort mehr die Tätigkeit des Gefolgsmannes aus, hieß also etwa: treu sein, ergeben sein, zuverlässig sein. Auch dieser Begriff des "Dienens" steckt in unserem Wort "Demut". Frei übersetzt könnte man sagen: Demut heißt Mut zum Dienen. Wobei Mut in dem Sinn von Bereitschaft, Aufgeschlossensein, von Grundeinstellung zu verstehen ist. Die Bereitschaft zum Dienen ist eines der Wesensmerkmale, wenn nicht das Wesensmerkmal der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Das Grundprinzip der Anonymität, des Zurücknehmens der eigenen Person um der Sache willen, hat so verstandene Demut zur Voraussetzung. In den Traditionen heißt es ausdrücklich, dass "unsere Vertrauensleute nur betreute Diener sind, die nicht herrschen". Hier schließt sich der Kreis zum Dritten Schritt und der dort geforderten Bereitschaft, dem Gott, so wie wir ihn verstehen, die Führungsrolle zu überlassen. Hier wird offenbar, dass "Demut" nicht nur einmal zufällig als Begriff im Siebten Schritt vorkommt, sondern, dass diese Grundeinstellung der Bereitschaft zum Dienen durchgängig alle Schritte und Traditionen durchzieht.

Wenn man sich mit einem einzelnen Schritt im Programm der Anonymen Alkoholiker länger beschäftigt, merkt man erst, dass jeder dieser Schritte von ungeheurer Aussagekraft ist. Bei jedem Schritt möchte man nach intensiver Beschäftigung mit seiner inhaltlichen Aussage behaupten, dies sei wohl der wichtigste Schritt im Programm. Und in der Tat ist immer der Schritt am wichtigsten, dessen Sinn uns nach einigem Nachdenken plötzlich ganz deutlich vor Augen steht.

Im Siebten Schritt geht es also im wesentlichen um die Demut, ein Wort, in dessen Ursprung wir den Begriff des "Gefolgsmannes" entdeckt haben. Gefolgsmann zu sein, ist nichts Demütigendes. Derjenige der an der Spitze geht, drückt den Nachfolgenden das Qualitätssiegel auf. Das Ziel ist entscheidend, nicht die Tatsache, ob man im zweiten oder dritten Glied gegangen ist, um es zu erreichen.

Dem Leben Richtung geben

Vorher hatten wir gar keine Richtung. Unser Leben kreiste um das eigene Ich, und das allbeherrschende Suchtmittel Alkohol. Nachdem dieser magische Anziehungspunkt, dieser Magnet aus unserer Lebensachse entfernt ist, würden wir ziellos irgendwo im Vakuum trudeln, gäben wir unserer Existenz nicht endlich eine Zielrichtung. Weil wir aber wissen, dass diese Bewegung, wenn wir sie sich selbst überlassen, wie die einer Grammophonnadel wieder auf die eigene Mitte zusteuert, lassen wir "Ihn" - wie es lapidar im Siebten Schritt heißt - die Richtung bestimmen.

Nüchtern werden heißt doch auch, klar denken lernen. Im klaren Denken kann die Erkenntnis nicht ausbleiben, dass das Ich nicht die Sonne ist, um die sich andere und alles wie Trabanten drehen. Wenn schon dieses Bild, dann ist das Ich doch wohl nur einer der Millionen kleinen Trabanten mit relativ bescheidener Funktion (nicht mit Bedeutungslosigkeit) in einem großen, geordneten oder zu ordnenden Kosmos. Wissend, dass dieses millionste Partikel in der Unendlichkeit der Vielfalt außerstande ist, über seinen Bereich hinaus zu wirken und zu ordnen, sind wir daran gegangen, unseren kleinen Mikrokosmos erst einmal in Ordnung zu bringen.

Wir haben Inventur im Vierten Schritt gemacht, sind dabei auf positive Ansätze, aber auch auf eine Menge von Fehlhaltungen gestoßen. Der gravierendste Fehler, sozusagen der gemeinsame Nenner all unserer Untugenden, war die völlige Ichbezogenheit unserer Existenz während der Trinkerzeit. Die Maßstäbe haben einfach nicht mehr gestimmt. Wir haben darüber gesprochen. Im Erfahrungsaustausch des Gruppengesprächs ist uns vieles klar geworden. Das im Fünften Schritt empfohlene vertrauliche Gespräch mit "einem anderen" war ein Freisprechen und endete mit einem Freispruch.

Damit waren wir schon ein gutes Stück vorangekommen. So weit Gedächtnis und Bewusstsein reichten, waren die Schleier der Verharmlosung weggerissen. Vor uns selbst gab es keine Geheimnisse verdrängter Begebenheiten mehr. Vor einem anderen und vor Gott, so wie wir ihn verstehen, lagen sie wie ein offenes Buch, in dem es keine verklebten Seiten gibt. Das war die Situation des Fünften Schrittes.

Der nächste Punkt im Programm der Anonymen Alkoholiker hat uns ein Stück weitergebracht. Haben wir bis dahin -bildlich gesprochen - unsere Schulden zusammengezählt, so sind wir dann ans Bezahlen gegangen. Mit den im Vierten Schritt bei der Inventur erkannten und im Fünften Schritt bekannten Fehlhaltungen wollten wir nicht weiterleben. Auch nicht mit denen, die uns in unserer Unzulänglichkeit und Vergesslichkeit vielleicht noch gar nicht ins Bewusstsein gekommen waren. Deshalb fand uns der Sechste Schritt "völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen".

Fundament des Gesamtprogramms

Diese Bereitschaft findet im Siebten Schritt ihre Fortsetzung und Vertiefung, weil uns dieser Schritt auch die geistige Grundeinstellung empfiehlt, mit der dieses Gemeinschaftswerk mit dem als Partner ins Leben genommenen Gott angepackt werden sollte. Eben mit der "Gesinnung des Gefolgsmannes", mit Demut. Um diese Grundeinstellung muss man sich schon bemühen. Aber sie stellt sich eigentlich automatisch immer wieder ein. Man braucht sie als Basis, wenn man die später im Zehnten Schritt empfohlene fortgesetzte Inventur dazu benutzt, sich immer wieder bei eigener Unzulänglichkeit zu ertappen. Wer wachsam die Rückfälle in die Ichbezogenheit registriert, wer darüber nachdenkt, wie sinnlos es auch heute wieder war, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, der ist ganz nah an der Klammer, die sich vom Dritten zum Siebten Schritt spannt, und eigentlich Basis des gesamten Programms in den zwölf empfohlenen Schritten ist. Und diese Basis heißt Demut.

Wenn unser Programm ein Genesungsprogramm ist, wenn Genesung für uns nüchternes, klares Denken bedeutet, auch Rückgewinnung von Selbstwertgefühl, dann schließt das automatisch die uns zuvor so weitgehend abhandengekommene Ehrlichkeit mit ein. Und wer ehrlich ist, kann sich gar nicht auf Dauer für außergewöhnlich halten, für den Mittelpunkt, um den sich alles dreht.

Wenn man es so sieht, ist es eigentlich gar nicht schwer, demütig zu sein, "Ihm" Gefolgsmann sein zu wollen, "Ihn" demütig zu bitten, all diese Fehler von uns zu nehmen.

Ganz sicher aber rechnet Er damit, dass wir selbst dabei mit anpacken.


DER ACHTE SCHRITT

Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wiedergutzumachen.

Hört es denn überhaupt nicht auf, dieses Herumkramen in der Vergangenheit? Wie lange soll denn das noch fortgesetzt werden? - Opposition meldet sich, wenn im Programm der Anonymen Alkoholiker im Achten Schritt noch einmal die Vergangenheit heraufbeschworen wird. "Da steckt doch ein Widerspruch drin", sagt der Skeptiker: "Heißt es nicht, wir sollen im Heute leben, wir sollen das Gestern als unabänderlich ruhen lassen?"

Was auf den ersten Blick als Widerspruch erscheint, erweist sich bei einigem Nachdenken als logisch: Die in vorausgegangenen Schritten begonnene Aufräumungsarbeit soll jetzt zum Abschluss gebracht werden. Das ist die Voraussetzung für ein unbeschwertes Leben im Heute.

Ein Dauerauftrag

Im Achten und im Neunten Schritt geht es um die Ordnung der mitmenschlichen Beziehungen. Das ist ein Stück Vergangenheitsbewältigung und gleichzeitig ein bleibender Auftrag für unser neues Leben. Trotz allen Bemühens um Ehrlichkeit und Toleranz nämlich passiert es uns auch jetzt, dass uns die Nerven durchgehen, dass wir andere kränken. Auch für das bei der täglichen Inventur aufgedeckte Fehlverhalten gilt die Empfehlung der Schritte acht und neun. Aus dieser Sicht ist der Achte Schritt wie alle Punkte des A.A.-Programms sowohl eine einmal zu bewältigende Aufgäbe als auch ein Dauerauftrag. Dieser Dauerauftrag heißt, sich um ein geordnetes, mitmenschliches Verhältnis bemühen. Unnötig zu sagen, dass man damit nie hundertprozentig fertig wird, dass dies eine Lebensaufgabe bleibt, die an einem Tag besser gelingt, während man an einem anderen Tag wieder zurückgeworfen wird. Voraussetzung aber, dieses Lebenswerk anzugehen, ist die Ordnung der mitmenschlichen Beziehungen aus der Vergangenheit.

Fluchtversuche

Wie notwendig und wie unangenehm dieser Teil der Aufräumungsarbeit ist, wird uns klar, wenn wir uns daran erinnern, dass wir alle "irgendwo neu anfangen" wollen oder wollten. Es gehört fast zwangsläufig zum Prozess des Nüchternwerdens, dass man fort will: aus dem Beruf, aus der Partnerschaft, vom Arbeitsplatz, aus der Stadt, aus der Gegend, aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Wenn wir nach den Gründen für dieses Ausbrechenwollen suchen und dabei ehrlich sind, stoßen wir auf zwei Dinge: einmal glauben wir, die Schuld für unser Versagen und unser Trinken bei anderen Personen oder in den früheren Lebensumständen zu sehen; zum anderen drücken wir uns vor der Konfrontation mit der Vergangenheit.

Der erste vorgeschobene Grund für den ins Auge gefassten Fluchtversuch ist falsch und gefährlich. Wir haben nämlich nicht getrunken wegen irgendwelcher widriger Lebensumstände oder wegen der Nähe irgendwelcher Leute, sondern, weil wir Alkoholiker sind. Es ist für uns gut und wichtig, das zu wissen. Ein Orts-, Berufs- oder auch Partnerwechsel würde nämlich an dem Grundtatbestand, dass wir Alkoholiker sind, nichts ändern. Wenn wir den Fluchtversuch in die Tat umsetzen (und nicht wenige haben uns das vorgemacht), werden wir bald bitter erfahren, dass unsere Krankheit mit uns reist.

Der zweite Grund, der den an der Schwelle zur Nüchternheit stehenden Alkoholiker an Veränderung auf den vorher beschriebenen Feldern denken lässt, ist das Gewissen. Ein unangenehmes Gefühl steigt in uns hoch, wenn wir an die zurückliegende, teilweise schlimme Zeit denken. Hier hakt der Achte Schritt ein, der unserer Drückebergerei einen Riegel vorschieben will. Denn genauso wie wir die Krankheit bei einem eventuellen Wechsel mitnähmen, genauso würde uns die Vergangenheit begleiten.

Das bisher Gesagte soll nicht heißen, dass das A.A.-Programm uns an Ort, Partner und Arbeitsplatz auf ewig bindet. Im ein oder anderen Fall mögen solche Wechsel sinnvoll, nützlich und notwendig sein. Nur sollen wir solche Wechsel nicht ins Auge fassen, um nüchtern zu werden, sondern nachdem wir in Nüchternheit ein gewisses Maß an Stabilität gefunden haben. Viele, die zuvor solche Veränderungen geplant hatten, lassen später diese Pläne fallen. Der Achte Schritt empfiehlt uns, eine Liste zu machen. "Auch das noch", stöhnt ein Zwischenrufer im Meeting. "Sind wir denn Kinder, die mit einem Zettelchen zum Kaufmann geschickt werden?" Diesem Freund wäre zunächst einmal zu entgegnen, dass selbst Meisterhausfrauen mit einer zuvor nach auftretendem Bedarf aufgestellten Liste einkaufen gehen, um ihr Budget nicht in Unordnung zu bringen. Ein Stück Papier zur Hand zu nehmen und darauf Gedanken niederzuschreiben, ist nicht albern oder kindisch.

Ähnlich wie man sich von Problemen freisprechen kann, indem man sie - beispielsweise im Meeting - darlegt, so kann man sich auch freischreiben. Hier im Achten Schritt aber geht es nicht um die niedergeschriebene Lebensgeschichte oder um einzelne Kapitel daraus, sondern um das Anlegen einer Namensliste. Personen sollen wir aufschreiben, die wir in der Vergangenheit gekränkt haben, denen wir Schaden zugefügt haben.

Keinem geschadet?

Wenn der Schritt im Meeting zur Sprache kommt, meldet sich mit Sicherheit einer oder eine, der sagt: Ich habe niemandem geschadet außer meinem Geldbeutel; ich habe niemanden gekränkt, - nur meine Leber. Im Weiterreden wird unser Freund ein wenig ins Drucksen kommen, er wird "na ja" und "manchmal" stottern und eingestehen, dass es schon hin und wieder Ärger gegeben hat - zu Hause, mal am Arbeitsplatz, manchmal auch in der Wirtschaft. Und mit den Kindern. Und mit der Verwandtschaft, die ihm aber ohnehin gestohlen bleiben kann.

Unmerklich ist dieser Freund dabei, die "Liste" zu machen, von der im Achten Schritt die Rede ist. Auch wenn er jetzt schnell hinzufügt, dass das alles inzwischen wieder in Ordnung ist, wird ihm vielleicht später einfallen, dass er mit dem einen oder der anderen doch noch mal reden sollte. Beispielsweise mit der Verwandtschaft. Obwohl er hier nach wie vor der Meinung ist, dass die und nicht er an dem Zerwürfnis Schuld sind.

Zwei vorschnellen Reaktionen auf die Herausforderung des Achten Schrittes gilt es, Nachdenken entgegenzusetzen. Erstens die typische und verständliche spontane Abwehr-Reaktion: ich habe im großen und ganzen niemandem Schaden zugefügt. Diese Bemerkung wird untermauert mit dem Hinweis darauf, dass die Familie immer zu essen hatte und auch sonst hinlänglich versorgt war. Unter Bezugnahme auf schlimmere Alkoholiker-Berichte, die im Meeting erzählt worden sind, sagt man: so schlimm war es bei mir nicht; ich habe meine Arbeitsstelle nicht verloren, war auch ziemlich regelmäßig zur Arbeit gegangen. Ich war nicht monatelang in einer Entziehungskur, ich habe kein Geld für meine Trink-Eskapaden aus der Haushaltskasse oder der Kindersparbüchse gestohlen. Und so weiter.

Vordergründig mag dieser Freund, der auch noch ergänzt, "dass es im Bett immer noch geklappt hat" tatsächlich niemandem Schaden zugefügt haben. Aber: wäre das Leben in der Familie, in der Freizeit und im Urlaub nicht anders verlaufen ohne seine Alkoholkrankheit? Vielleicht ist ihm das Ausmaß dessen, was der Partner mitzutragen hatte, nie richtig bewusst geworden, weil sich der Partner resignierend gefügt und mit Vorwürfen zurückgehalten hat? War das Verhältnis der Kinder nicht mehr von Angst vor seinen Unberechenbarkeiten als von Zuneigung und Liebe geprägt?

Und wenn am Arbeitsplatz alles dem Anschein nach noch so halbwegs lief, war das nicht eher das Ergebnis kameradschaftlicher Hilfsbereitschaft der Kollegen als ein Verdienst eigener Tüchtigkeit? Haben nicht oft andere stillschweigend die Arbeit miterledigt, um einen Streit zu vermeiden und so den Arbeitsfrieden zu erhalten?

Ein anderer wird beim Überdenken der mitmenschlichen Beziehungen auf seine Eltern stoßen, auf den schweigend von der Mutter getragenen Kummer, auf das sorgenvolle Gesicht des Vaters. Einem dritten wird es zu denken geben, dass im Laufe der Jahre der Kreis wertvoller Freundschaften nicht grundlos geschrumpft ist.

Jedem von uns fällt eine ganze Menge ein, wenn wir im Sinne des Achten Schrittes "eine Liste der Personen machen, denen wir Schaden zugefügt haben", auch wenn sich solcher Schaden nicht in Mark und Pfennig, nicht in anderen zugefügten Knochenbrüchen, Nervenzusammenbrüchen oder zerbeulten Kotflügeln aufaddieren lässt.

Wunden, die die Zeit nicht heilt

Solche Schäden wären auch nach der Empfehlung dieses Schrittes relativ leicht - oft mit Bargeld - wiedergutzumachen. Schwieriger ist das schon bei dem von uns anderen zugefügten seelischen Flurschaden, zumal wenn dieser unser soziales Umfeld nicht bei einmaliger Entgleisung wie ein Unwetter getroffen hat (daran würden wir uns leichter erinnern), sondern durch tägliche Sticheleien. Lieblosigkeiten, durch Ichbezogenheit, Misslaune und Unzuverlässigkeit.

Wer bis hierhin gelesen hat, wird vielleicht jetzt sagen: Okay, auch bei mir war nicht alles so in Ordnung, wie ich zunächst gesagt habe. Aber soll ich jetzt durch den Wiedergutmachungsversuch alte Wunden wieder aufreißen? Nach einer gängigen Redensart frisst nur ein Kamel das Gras weg, das über eine Sache gewachsen ist. - Zu dieser zweiten Abwehr-Reaktion ist zu sagen: Man sollte nicht so sicher sein, ob Gras darüber gewachsen ist. Dies zu glauben, ist oft nur ein Vorwand, um der unangenehmen Wiedergutmachung aus dem Weg zu gehen. Verbünden sich in uns nicht Angst und Stolz gegen die Einsicht, dass es uns besser bekommt, wenn wir die Vergangenheit bereinigen? Es geht dabei nicht vordergründig um den, dem wir Schaden zugefügt haben, sondern um uns.

Vielleicht macht ein Beispiel dies deutlich: Der Alkoholiker X hat irgendwann in einem Supermarkt eine Flasche Schnaps mitgehen lassen, nicht weil er ein Dieb ist, sondern weil ihn die körperliche Sucht dazu getrieben hat. Das hat damals niemand gemerkt. Als unser A.A.-Freund X den Achten Schritt machte, hat er die Konzernzentrale davon in Kenntnis gesetzt (ohne seinen Namen zu nennen), sich entschuldigt und den Betrag beigefügt.

So kann man Dinge wiedergutmachen, von denen der Geschädigte nicht einmal etwas gemerkt hat. Schwieriger und unangenehmer sind Schäden zu bereinigen, die sich durch uns im mitmenschlichen Verhältnis ergeben haben. Hier hilft ' nur die Aussprache, deren Gegenstand nichts als die Information über unsere Krankheit zu sein braucht. In welchen Fällen solche Aussprachen angebracht sind, wo man in anderen Fällen darauf verzichten sollte, darüber wird beim Neunten Schritt zu sprechen sein.

Nutzen aus der Vergangenheit

Jedenfalls können wir aus der im Achten Schritt in Angriff genommenen Neuordnung unserer mitmenschlichen Beziehungen persönlich viel Nutzen ziehen. Weil wir nicht wie Robinson allein auf einer Insel leben, ist all' unser Handeln nicht ohne Nebenwirkungen auf unsere Umwelt und unsere "Nächsten". Im Nachdenken darüber, wo wir diesen Nächsten in der Vergangenheit Schaden zugefügt haben, stoßen wir auf Aspekte unseres Charakterbildes, die uns bei isolierter, ichbezogener Betrachtung bisher nicht so deutlich geworden sind.

Alle Beschäftigung mit der Vergangenheit aber ist sinnloses Grübeln, das uns der Verzweiflung und damit dem Rückfall nahebringt, wenn wir es nicht positiv ummünzend angehen. Das heißt, mit dem Willen, aus dem schlechten Gestern Nutzen zu ziehen für das bessere Heute.

Der im Achten Schritt empfohlene Wille zur Wiedergutmachung, zur Ordnung unserer partnerschaftlichen, mitmenschlichen Verhältnisse ist, wenn er in die Tat umgesetzt sein wird, das Ende der Einsamkeit, in die wir uns getrunken haben. Es ist das Ende der Isolation. Nach dieser Vergangenheitsbewältigung brauchen wir nicht mehr die Straßenseite zu wechseln, wenn der frühere Chef oder der ehemalige Kollege auf uns zukommt. Wir brauchen nicht mehr mit Angst an den Briefkasten zu gehen oder zusammenzuzucken, wenn es an der Wohnungstür klingelt.

Das zu erreichen, ist der tiefere Sinn des Achten Schrittes.


DER NEUNTE SCHRITT

Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut, wo immer es möglich war, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.

Für den Neunten Schritt braucht man die Tugenden, um die wir unsere Höhere Kraft im Gelassenheitsspruch bitten: Gelassenheit, Mut und Weisheit. Vor allem "die Weisheit, richtig zu unterscheiden", ist bei diesem Schritt gefragt, weil er mit der Formulierung "es sei denn" von uns eine solche richtige Unterscheidung verlangt.

Aber auch Mut und Gelassenheit sind Voraussetzungen für die Bewältigung dieses Schrittes, den man nach aller Erfahrung nicht in den ersten Tagen und Wochen der A.A. Zugehörigkeit vollziehen kann. Der Neunte Schritt zielt darauf, dass wir mit anderen über uns sprechen, vor allem über unsere Vergangenheit. Bei den meisten der in Frage kommenden Gesprächspartner geht es dabei für uns um eine "Entschuldigung", also um Entschulden, schuldenfrei machen, Schulden zurückzahlen. Im übertragenen Sinn al- so um den Versuch der Wiedergutmachung, soweit dies überhaupt möglich ist; jedenfalls beinhaltet dieser Schritt das Eingeständnis von Schuld und die Hoffnung, bei dem Gesprächspartner auf Verständnis und Verzeihung zu stoßen.

Das ist kein Arbeitsauftrag für die ersten Tage der Trockenheit. Wir selbst und unser Gesprächspartner wären damit überfordert. Dieser muss doch ein solches Gespräch nach dreitägiger Abstinenz dort einordnen, wo er frühere Versprechungen, Schuldbekenntnisse und Ausreden abgelegt hat: m die Riesenkiste ohne Boden. Wir konnten in unserer Suchtkrankheit nicht anders, als die gegebenen Versprechungen immer wieder dem stärkeren Alkohol zu opfern.

Nicht für den Anfang

Der Neunte Schritt ist also nichts für den Anfang, weil wir noch nicht argumentieren können und weil die anderen uns noch mit zu großem und allzu berechtigtem Misstrauen gegenübertreten. Dennoch sind wir unbewusst mit jedem Tag, den wir fortgesetzt alkoholfrei verbringen, im Neunten Schritt tätig. Wir machen wortlos wieder gut, indem wir das uns und andere in Erstaunen versetzende Wunder vollbringen, einen Tag nach dem anderen trocken zu bleiben. Wir spüren förmlich, wie dies kritisch und ängstlich beobachtet wird und wie mit jedem Tag auch bei den Angehörigen Sicherheit, Zuversicht und Freude wachsen. Mit nicht ganz so großer Anteilnahme, aber doch für uns spürbar, wird diese unsere Anfangs-Entwicklung auch am Arbeitsplatz und im Bekanntenkreis verfolgt.

"Prima", mag jetzt jemand einwenden, "dieser Neunte Schritt ist ja bequem; er vollzieht sich von selbst, wenn ich nicht trinke". - So einfach ist es allerdings nicht. Durch unsere fortgesetzte Abstinenz bereiten wir das Feld vor, auf dem dann zu gegebenem Zeitpunkt im Sinne des Neunten Schrittes zu arbeiten ist. Unsere bis dahin schon etwas stabilisierte Trockenheit hat das Klima verbessert, in dem die dann notwendigen Gespräche zu führen sind.

Im Achten Schritt haben wir auf einem Stück Papier die Namen derer festgehalten, die durch unser Trinken zu leiden hatten. Auf diesem Zettel sind Personen verzeichnet, die durch das Leben an der Seite eines Alkoholkranken zwangsläufig in Mitleidenschaft gezogen waren. Da stehen weiter Namen von Personen, mit denen wir zwar nicht so eng zusammengelebt haben, denen wir aber im Verlauf unserer Krankheit bewusst oder unbewusst Mehrarbeit, Ärger oder Schaden zugefügt haben. In der ersten Gruppe der Geschädigten stehen also die Lebenspartner und die weiteren Familienangehörigen; in der zweiten ist einzuordnen das weite Feld der Arbeitswelt und des Bekanntenkreises.

Gemeinsamer Brückenbau

Nun sage niemand, die Einbeziehung Mitbetroffener in das Genesungsprogramm sei "wieder so eine A.A.-Marotte". Die Praktiker, die selbstbetroffenen Alkoholiker, die dieses Programm vor Jahrzehnten aufgeschrieben haben, hatten zwar keine Vorlesungen über die Alkoholkrankheit gehört, sie wussten aber aus Erfahrung, was dem jungen Medizin- und Psychologiestudenten heute auch an der Universität gesagt wird: Alkoholismus ist eine Familienkrankheit. Die Fachleute haben dafür ihre speziellen Formulierungen; sie sagen: Das soziale Umfeld ist mitbetroffen. Wie tief bei A.A. das Wissen um diese Tatsache ist, wird bewiesen durch das Bestehen eigener Gruppen für die Angehörigen.

Aber auch die Existenz von solchen Gruppen entbindet uns Alkoholiker nicht von der Verpflichtung, unsere gestörten mitmenschlichen Beziehungen in Ordnung zu bringen.

Auch wenn der Partner oder die Partnerin zu Al-Anon gehen und dadurch Verständnis für den Alkoholkranken entwickeln, muss dieser seinen Neunten Schritt machen. Nach dem Verursacherprinzip sollte er mit dem Bau der Versöhnungsbrücke beginnen und die Bereitschaft zur Wiedergutmachung selbst dann aufbringen, wenn er damit zunächst auf taube Ohren stößt. In einer guten, verständnisvollen Partnerschaft wird man vielleicht den Brückenbau der Wiedergutmachung des Neunten Schrittes von beiden Seiten beginnen und so aufeinander zu arbeiten.

Kehren wir zurück zu dem vor uns liegendem Zettel mit den Namen. Was sollen wir jetzt damit anfangen? - Zunächst haben wir Namen ungeordnet aufgeschrieben, so wie sie uns in den Sinn gekommen sind. Daraus machen wir jetzt eine Liste. Die Namen könnten sortiert werden nach der Reihenfolge, in der die Wiedergutmachungs-Gespräche gerührt werden sollen. Beim Aufstellen dieser Liste kann sich ergeben, dass mit dem einen oder der anderen dieses bereinigende Gespräch schon stattgefunden hat.

Ein gutes Wort

Aber vielleicht sollten wir mit dem "Als-Erledigt-Abhaken" Fällen ein nochmaliges Wort gut. Ein solches Wort an den, all der Zeit des Trinkens an Deiner Seite ausgehalten hat, kann ein "Danke!" sein. Auch aufrichtiger Dank ist eine Art der Wiedergutmachung und der Entschuldigung. Beim Auflisten der Geschädigten werden wir uns auch Gedanken machen über die Form, in der wie alte Dinge bereinigen wollen. Dafür gibt es keine Rezepte und Patentlösungen. Der eine A.A.-Freund hat den Dank und die Entschuldigung seinen Angehörigen gegenüber, weil er zuvor mit ihnen einfach nicht ins Gespräch gekommen ist, eingeleitet, als er beim öffentlichen Meeting am Rednerpult stand und die Familie im Saal saß. Ein anderer mag für die notwendige Aussprache mit der geschiedenen Frau die Form des Briefes wählen. Auch mit den Kindern aus dieser Ehe wird in irgendeiner Form zu sprechen sein.

Noch mehr Behutsamkeit als im familiären Bereich ist bei der Vergangenheitsbewältigung am Arbeitsplatz notwendig. Auch hier wird man am zweckmäßigsten nicht mit der Tür ins Haus fallen und große Sprüche loslassen, wenn man nach halbjähriger Entziehungskur dort erstmals wieder auftaucht. Allzuforsches Auftreten würde den Kollegen nur zu der Bemerkung veranlassen, dass wir uns nicht geändert haben. Unserer Nüchternheit dient es mehr, wenn wir sie auch am Arbeitsplatz beweisen, anstatt sie zu beschwatzen. Dennoch stehen hier Gespräche auf dem Arbeitsplan. Der Hinweis, dass solche Aussprachen nicht in den ersten Tagen angestrebt zu werden brauchen, sollte uns nicht als Ausrede dafür dienen, die Empfehlung des Neunten Schrittes endlos auf die lange Bank zu schieben.

Die Kollegen, bei denen wir uns zu entschuldigen haben, werden uns oft auf halbem Weg entgegenkommen. So wie sie kameradschaftlich für uns eingestanden sind, nehmen sie auch mit Interesse Anteil an unserer Entwicklung und stellen Fragen.

Die bis hierher angedeuteten Fälle der wiedergutmachenden Aussprache waren relativ leicht zu bewältigen. Es mag andere Fälle geben, in denen der Neunte Schritt nicht nur im Gespräch zu bewältigen ist. Möglicherweise ist auch materieller Schaden auszugleichen. Nehmen wir als Beispiel eine in Trunkenheit begangene Unfallflucht. Wenn dem inzwischen zu A.A. gehörenden Freund der Halter des Autos, das er damals beschädigt hat, bekannt ist, so kann er den materiellen Schaden nachträglich - vielleicht unter Einschaltung einer Vertrauensperson - begleichen.

Andere nicht belasten

Mit diesem Beispiel aber nahem wir uns den Fällen auf unserer Liste, bei denen wir mit Recht ein Fragezeichen hinter den Namen machen. "Es sei denn, wir würden durch unsere Wiedergutmachung neuen Schaden anrichten", heißt es im zweiten Teil des Neunten Schrittes sinngemäß.

Weil sich der eine oder andere auf Anhieb solche Fälle nicht vorstellen kann, seien hier zwei Beispiele angeführt, in denen sehr wohl abzuwägen ist, ob durch Eingeständnis Schaden wiedergutgemacht wird oder ob neuer Schaden angerichtet wird. Beispiel eins: der lange zurückliegende Seitensprung. Das mag den, der ihn begangen hat, belasten. Er muss sich aber überlegen, ob es fair ist, sich zu entlasten, indem er anderen Last aufbürdet und jetzt das Familienleben zerschlägt. Beispiel zwei: der durch kleine Unterschlagungen, durch zu viel aufgeschriebene Kilometer oder frisierte Spesenrechnungen geschädigte Arbeitgeber. Der A.A.-Freund, der noch bei diesem Arbeitgeber beschäftigt ist, wird abwägen müssen, ob er seiner eben sich materiell ein wenig erholenden Familie den neuen Schaden zufügen kann, wenn ein Eingeständnis dieser Unregelmäßigkeiten seine fristlose Entlassung zur Folge haben könnte. Diese Beispiele sind willkürlich die Situationen sind auch nur angedeutet. Jeder Einzelfall sieht hier anders aus. Jeder Einzelfall bedarf der sorgsamen Abwägung, bedarf "der Weisheit, richtig zu unterscheiden".

Wer in solchen Punkten Zweifel und Schwierigkeiten hat, sollte sie nicht mit sich herumschleppen. Wem die Gruppe ein zu großes Forum zur Darlegung dieser Schwierigkeiten ist, kann darüber mit seinem Sponsor reden. Auch mit der Vertrauensperson, der wir im Fünften Schritt unsere Fehler unverhüllt anvertraut haben, könnte man sprechen. In jedem Fall steht uns ein liebender Gott zu Seite, in dessen Sorge wir im Dritten Schritt unser Leben und unseren Willen gegeben haben.

Der Neunte Schritt stellt uns in Verantwortung und fordert Bereitwilligkeit, Konsequenzen aus unserer Vergangenheit zu tragen. Dieser Schritt will von uns keinen selbstzerstörerischen Heldenmut, er mahnt uns im Gegenteil zur Verantwortlichkeit für das Wohl der anderen und für die eigene Entwicklung.

Wenn die Schritte im Programm der Anonymen Alkoholiker Überschriften hätten (sie brauchen keine), dann könnte man über den Auftrag und das Erfordernis des Neunten Schrittes die zwei Wörter schreiben: Tapferkeit und Güte.


DER ZEHNTE SCHRITT

Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu.

Jetzt sind wir im Programm der Anonymen Alkoholiker im Heute. Die Schritte eins bis neun halfen uns, die Vergangenheit zu überdenken, zu ordnen, aus Fehlern zu lernen und Brauchbares mitzunehmen in das jetzt beginnende neue Leben. Nachdem wir im Ersten Schritt kapituliert und in den folgenden Punkten des Programms bewusst Gott als Partner und Lenker in unser Leben genommen hatten, ging es in den Schritten vier bis neun um die Aufarbeitung des Gewesenen und dabei zuletzt vor allem um die Ordnung unserer mitmenschlichen Beziehungen.

Im Zehnten Schritt gibt uns das A.A.-Programm Empfehlungen für den Alltag an die Hand. Und zwar für den Alltag so wie er ist, mit seinen Ärgernissen und Freuden, mit seinem Einerlei und seinen Überraschungen. In diesem Alltag wollen wir uns bewähren; wir wollen anders leben als früher.

Doch wozu das? Genügte es nicht, wenn wir nicht mehr trinken? Hat der Freund nicht recht, der gesagt hat: "Ich darf alles, nur nicht saufen?"

An dieser Stelle kann die Meetingsabende füllende Diskussion nur angedeutet (und angeregt) werden: Ist unser Programm nur dazu da, dass wir nüchtern bleiben? Besteht der ganze Sinn meines weiteren Lebens nur in der Erhaltung meiner Nüchternheit oder ist die Erhaltung dieser Nüchternheit erst die Voraussetzung für ein darauf aufbauendes neues Leben? Dies letztere kommt sicherlich der Wahrheit und dem eigentlichen Sinn des Programms näher.

Lebensprogramm

Es ist eigentlich auch eine müßige, ganz praxisferne Diskussion um die Fragestellung, ob die Nüchternheit voller Sinngehalt oder nur Voraussetzung für ein neues Leben ist. Rein praktisch sieht es nämlich doch so aus, dass der zuvor abhängige Alkoholiker mit dem Entschluss zur totalen Abstinenz das Steuer seines Lebens um hundertachtzig Grad herumwirft und damit ein neues Leben beginnt. Tut er das nämlich nicht, in dem Glauben, er brauche fortan nur nicht mehr zu trinken und alles andere könne unverändert bleiben, so ist seine Trockenheit nicht von langer Dauer. Das Programm der Anonymen Alkoholiker hilft uns zu fortdauernder Nüchternheit, weil es über die Bewältigung des Alkoholproblems hinaus uns Richtschnur und Verhaltensregeln an die Hand gibt, die uns Situationen meistern lassen, in denen eben diese Nüchternheit besonders gefährdet ist. Im gesamten Programm kommt jedenfalls das Wort "Alkohol" nur einmal im zweiten Halbsatz des Ersten Schrittes vor. Das übrige Programm geht davon aus, dass das akute Alkoholproblem damit für uns erledigt ist, dass wir heute das erste Glas stehen lassen.

Aber was will das A.A.-Programm, was wollen die Anonymen Alkoholiker? Sollen wir zu Heiligen gemacht werden, zu einer ausgewählten Gruppe der Friedfertigen in einer friedlosen Welt?

Hier nur der Versuch, Antworten zu geben auf diese Fragen, die im Meeting immer mal wieder gestellt werden: Zunächst gibt es den verschwommenen, unfassbaren Begriff "die Anonymen Alkoholiker" nicht. Die Anonymen Alkoholiker: Das sind wir alle. Die zuvor gestellte Frage darf also nicht lauten: Was wollen "die Anonymen Alkoholiker", es muss richtig heißen: Was wollen wir, oder noch richtiger: Was will ich? - Nun, ich will nicht mehr so leben wie früher, ich will nicht mehr trinken. Um das zu erreichen, muss ich bewusst leben, muss mein Leben im Griff und unter Kontrolle halten. Ich kann mein Leben nicht dahinschludern lassen. Ich muss lernen zu leben. Jawohl lernen, so wie man lesen, nähen, melken, Auto fahren und hobeln lernt. "Leben" ist ein Lernberuf. Und weil viele in diesem Beruf ungelernt herumpfuschen, klappt es oft so schlecht.

Eine "Betriebsanleitung", ein Lehrbuch für uns Lehrlinge auf dem Berufsfeld "Leben", sind die zwölf Schritte des Programms der Anonymen Alkoholiker. Es ist sicherlich keine schönrednerische Untertreibung sondern glasharte Realität, wenn wir uns vorläufig noch als Lebens-Lehrlinge einstufen, die auf den Gesellenbrief hinarbeiten; an den Meistertitel wollen wir in der uns zugewachsenen Bescheidenheit lieber erst gar nicht denken.

Ein Kapitel, eigentlich das zentrale Kapitel in diesem Lehrbuch, ist der Zehnte Schritt. Ihm kommt deshalb eine solch zentrale Bedeutung zu, weil er mit seiner Empfehlung zur fortgesetzten Inventur die Hauptaufgabe in diesem neuen Leben stellt: ständiges Kontrollieren unseres Handelns und Reagierens. Der Zehnte Schritt heißt mit anderen Worten: bewusst leben, nicht im Alltag herumschludern und dieselben Fehler immer wieder machen. Er ist auch im positiven Sinne eine Kontrolle. So wie er uns Rückschläge aufzeigt, macht er uns auch Fortschritte bewusst, er vermittelt somit Erfolgs-Ergebnisse und ist dadurch eine Quelle für Zufriedenheit und Glück.

Der eigene Schiedsrichter

Derjenige, der noch nicht mit kontrolliertem, bewusstem Leben in der angedeuteten Art begonnen hat, mag zurückschrecken bei dem Gedanken, dass er künftig sein eigener Schiedsrichter sein soll. Der Neuling im Programm wird sich ausmalen, ein Leben in Selbstdisziplin sei etwas Trübseliges. Den Einwand "Da kann ich ja gleich in ein Kloster eintreten" wird dieser Freund nicht mehr machen, wenn er einige Zeit im Programm lebt und mit jedem Tag Freude hinzugewinnt an diesem neuen Leben. Die Freude wächst nämlich, weil das Glück nicht mehr durch die Droge Alkohol erschwindelt und vorgegaukelt, sondern bei klarem Verstand bewusst erlebt wird.

Diese Freude an dem neuen Leben wird nicht gemindert, wenn man sich, wie es der Zehnte Schritt empfiehlt, selbst Kontrollpunkte an den Lebensweg setzt. Genauso wenig wie es dem begeisterten Autofahrer den Spaß verdirbt, wenn an gefährlichen Stellen Warnschilder oder Verkehrsampeln aufgestellt sind. Auf dem Lebensweg können wir uns allerdings den Spaß verderben, wenn wir in Übereifer und Überängstlichkeit alle zwanzig Meter einen solchen Kontrollpunkt setzen. Das heißt für den Zehnten Schritt, dass mit der Empfehlung zu fortgesetzter Inventur nicht gemeint ist, dass unser Leben jetzt nur noch aus aneinandergereihten Inventuren zu bestehen hätte. Wie bei allen Punkten des Programms kommt es auch hier auf das rechte Maß an.

Hier das richtige Maß zu finden, ist gar nicht so schwer. Es gibt in jedem Tagesablauf untrügliche Anzeichen, die uns den Augenblick aufzeigen, in dem ein Innehalten, ein kontrollierendes Nachdenken angebracht ist. Plötzlich fühlt man sich in seiner Haut nicht wohl, ja man möchte aus ihr herausfahren. Plötzlich kribbelt es in den Fingern oder in der Magengegend. Plötzlich ist man misslaunisch, ohne zunächst den Grund zu erkennen. Verwirrung, Unmut, Ärger, Eifersucht, Zorn steigen in uns hoch. - Das ist der Augenblick, in dem es auf die Bremse zu treten gilt, um solche Aufwallungen in uns sich nicht steigern und zur Explosion kommen zu lassen.

Wenn in diesem Augenblick die Frage nach der Ursache des Unmutes zu stellen ist, so sollte sie ichbezogen gestellt werden. Möglicherweise haben äußere Umstände oder die Menschen um uns zur Entstehung solcher Verwirrung, zum Aufkeimen des Unmutes oder Ärgers beigetragen. Aber eben nur beigetragen. Und über diesen Beitrag der anderen sollen sich die anderen ihre Gedanken machen. Uns hilft es zur Bereinigung der Situation nur, wenn wir - unter Umständen blitzschnell - herausfinden, wo unser Anteil an der Sache liegt und wie wir wieder von der Decke zurück auf den Boden der Gelassenheit zurückkommen. Das gilt auch für möglicherweise unvermeidbare Auseinandersetzungen, in denen derjenige, der überlegt, immer überlegen ist.

Gerechter Zorn?

Aber wie ist das mit dem so genannten gerechten Zorn? Mit der Empörung über uns zugefügte schlechte Behandlung? Darf man sich nicht ärgern, wenn man betrogen worden ist? Muss man nicht manchmal zu Recht aufgebracht sein? Im Prinzip sind alle diese Fragen mit ja zu beantworten. Dieses Ja aber ist insofern einzuschränken, als die Anlässe zu solcher Art Empörung wirklich ganz seltene Ausnahmen sind. Und auch in diesen Ausnahme-Situationen kommt es entscheidend darauf an, wie wir reagieren. Zuerst einmal sollte jeder für sich überprüfen, wie sicher er überhaupt ist, zwischen berechtigtem und unberechtigtem Zorn zu unterscheiden. Dafür hat man Erfahrungswerte aus der Vergangenheit, auch aus jüngerer Vergangenheit. Es muss sich dabei nicht um die "nasse" Zeit handeln. Erfahrungswerte liegen eventuell auch über die Tatsache vor, dass man nicht gerade geschickt war in den Reaktionen, selbst wenn unser Zorn vermeintlich "gerecht" war. Vorsicht ist also in jedem Fall am Platze. Mitmenschliche Kontakte verlaufen nicht nach mathematischen Formeln. Auch die sich innerhalb solcher Kontakte ergebenden Schwierigkeiten und Ärgernisse sind nie so gesteuert, dass auf der einen Seite hundert Prozent Schuld und auf der anderen Seite gar keine Schuld wäre.

Die Blitzschnell-Inventur

Es lohnt sich demnach, auch in solchen Situationen die Blitzschnell-Inventur einzuschieben. Das ist sicherlich besser, als sich innerhalb der vielleicht unvermeidlichen Auseinandersetzung durch einen Wutausbruch die Position zu verderben. Denn: Wer brüllt, hat immer Unrecht. Eine solche Unbeherrschtheit belastet über Stunden, hält uns in explosivem Reizzustand, weil der Zorn in uns lange Zeit gegen die keimende Einsicht argumentiert, dass wir so hundertprozentig nun doch nicht im Recht waren.

Wenn jeder von uns einmal genau über seinen letzten Wutausbruch nachdenkt, vielleicht auch über eine extreme Niedergeschlagenheit, über eine Situation, in der man mal wieder so richtig in seinen Wallungen gebadet hat, entdeckt er dabei nicht gefährliche Parallelen zum Verhalten in der Trinkerzeit? Ist dieses genüssliche Verharren in angespannter Reizlage, ohne auch nur den geringsten Versuch, sich zurückzuholen, nicht artverwandt mit unseren früheren Zuständen? Schon in einer der ganz frühen Schriften der Anonymen Alkoholiker wird in diesem Zusammenhang das Wort "Trocken-Rausch" gebraucht, verbunden mit einer eindringlichen Warnung, weil es vom Kontrollverlust über die Gefühle oft nur ein Schritt ist zum "nassen Rausch".

Selbstbeherrschung aber ist nicht nur in den geschilderten Situationen berechtigter oder unberechtigter Wut vonnöten. Auch im Alltags-Einerlei kann tropfenweise verabreichte Unfreundlichkeit, Geringschätzung und Lieblosigkeit unsere Beziehungen zu Angehörigen oder Kollegen nachhaltig trüben. Bei der Inventur ergibt sich, dass der Grund für solches Fehlverhalten meist Überheblichkeit ist. An dieser Stelle springen die Betrachtungen zurück zum "Trocken-Rausch", der seine Ursache öfter als im Zorn in der Erfolgs-Euphorie hat. Kaum sind wir trocken, klopft man uns anerkennend auf die Schulter. Regeln sich dann noch unsere Schwierigkeiten, kommt ein bisschen materieller Erfolg hinzu, schon sind wir wieder "die Größten".

Das ist wie früher, als wir in einer Phase der Trinkerzeit auch gern im Mittelpunkt standen. Wie früher am Alkohol, berauschen wir uns jetzt an unserer Nüchternheit. Wir spielen uns auf, als ob es etwas Besonderes wäre, nicht besoffen zu sein. Eine Schleuse gegen solch prahlende Großtuerei ist die Erinnerung daran, dass wir durch die Gnade Gottes heute nüchtern sind. Auf solche Erkenntnisse stoßen wir bei der im Zehnten Schritt empfohlenen "Immerwieder-Inventur", Im Gegensatz zu der Entrümpelung unserer Vergangenheit im Vierten Schritt geht es jetzt um das Ordnunghalten in unserem Lebenshaushalt. Und genauso wie eine tüchtige Hausfrau tagsüber zwischendurch immer mal auf Ordnung sieht, einmal am Tag gründlich Staub wischt und alle paar Monate die Wohnung auf den Kopf stellt, so kann der Rhythmus der fortgesetzten Inventur des Zehnten Schrittes aussehen. Das ist zunächst die Sofort-Kontrolle, über die zuvor schon gesprochen worden ist. Sie erweist sich im Verlaufe eines Tages automatisch in gewissen Situationen als notwendig. Sie wird in einem gern und bewusst gelebten Leben zur Routine. Dann gibt es das Innehalten in einer Mußestunde. Das kann, aber muss nicht immer abends vor dem Einschlafen sein. Jedenfalls ist die Kontrolle über den Tag ein wichtiger Bestandteil unseres Selbst-Entwicklungsprogramms.

Tagesinventur

Diese Tagesinventur sollte sich aber nicht im vielleicht mühsamen Zusammensuchen von Fehlverhalten beschränken. Da gibt es jeden Tag auch einiges auf der Habenseite des Kontoblattes einzutragen: an alleroberster Stelle immer wieder aufs Neue die nie zur Selbstverständlichkeit werdende Tatsache unserer Nüchternheit. "Damit habe ich schon 51 Prozent", hat ein Freund einmal im Meeting gesagt und damit gemeint, dass jeder nüchterne Tag in seinem Leben ein gewonnener Tag ist. - Manches ist uns natürlich auch wieder nicht geglückt, ist nicht so gelaufen, wie wir es uns vorgenommen hatten. Misserfolg aber sollte uns nicht niederdrücken, er kann in Gewinn umgemünzt werden, wenn er in seinen Ursachen erkannt und damit zum Ansporn fürs Bessermachen am nächsten Tag wird.

Anlass genug, auch im Misserfolg und bei Rückschlägen optimistisch zu sein, haben wir Anonymen Alkoholiker: denn, stand nicht das Leiden unserer Trinkerzeit vor der von Tag zu Tag schöner werdenden Nüchternheit; sind wir nicht als ein Nervenbündel zerrütteter Gefühle und Verhältnisse in dieses Leben gestartet, in dem jetzt mehr und mehr heitere Gelassenheit Platz greift?

Quartals-Kontrolle

Neben der Zwischendurch-Kontrolle oder Spontan-Inventur (wie man es auch nennen mag) und der Tagesbilanz gibt es die Zwischenprüfung, die Etappenkontrolle, die man alle paar Monate einschieben sollte. Zu diesem inneren Hausputz ziehen sich viele A.A.-Freunde irgendwohin in eine ruhige Gegend auf ein paar Tage zurück. Religionsgemeinschaften, die etwas Ähnliches empfehlen, sprechen von "Rüstzeit". Das ist ein Ausdruck, der sehr gut trifft, was der Zehnte Schritt meint, wenn er uns empfiehlt, ab und zu innezuhalten und nachzudenken. Wir kontrollieren dabei, wie weit wir gekommen sind, und rüsten uns für den weiteren Weg.

Der Zehnte Schritt sagt auch, dass wir das bei der Inventur erkannte Unrecht eingestehen sollen. Gemeint ist, dass wir es uns selbst eingestehen, dass wir nicht tausend Ausreden suchen, wenn wir daneben getappt sind. Uns selbst brauchen wir am wenigsten etwas vorzumachen. Nennen wir es also nicht einen "konstruktiven Diskussionsbeitrag", wenn wir uns nur mal wieder selbst gern reden gehört haben. Erkennen wir doch klar bei der Inventur, dass es nur wieder darum ging, uns in den Vordergrund zu spielen, als wir in Abwesenheit über die Kollegin getratscht haben. Das sind nur zwei Beispiele für die Grundtendenz, dass wir unserem Tun immer andere und bessere Beweggründe unterschieben wollen, als ihm tatsächlich zugrunde gelegen haben.

Hier nach und nach zur Wahrhaftigkeit vor sich selbst zu finden, darauf zielt der Zehnte Schritt mit seiner Empfehlung, erkanntes Unrecht jeweils sofort zuzugeben.

Dieses Unrecht-Zugeben kann und sollte natürlich auch anderen gegenüber gehandhabt werden. Mehr darüber steht in den vorausgegangenen Kapiteln über die Schritte acht und neun. Hier abschließend nur soviel: Es bricht uns kein Zacken aus der Krone, wenn wir einem anderen gegenüber ein Unrecht zugeben und uns entschuldigen.

Apropos: Zacken aus der Krone: - Sollten wir die Krone nicht lieber ganz absetzen?


DER ELFTE SCHRITT

Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott - wie wir Ihn verstanden - zu verbessern. Wir baten Ihn, nur seinen Willen für uns erkennen zu lassen, und um die Kraft, ihn auszuführen.

Die Worthürde des Elften Schrittes ist für viele der Ausdruck "Gebet". So wie uns der Begriff "Demut" vor dem Siebten Schritt zurückschrecken lässt, so versperrt uns das eine Wort "Gebet" den Zugang zum Elften Schritt.

Gebet? - Das ist für die Einen Erinnerung an Kindertage, an aufgesagte Reime vor dem Zubettgehen. Gebet? - Das ist für die anderen so eng mit Begriffen wie Religion, Konfession, mit Kirche und Gottesdienst verbunden, dass sie sich "auf so etwas erst gar nicht einlassen wollen" (Zitat aus einem A.A.-Meeting). Und in der Tat zeigt die Erfahrung, dass sich diejenigen aus der A.A.-Gemeinschaft mit dem Programm schwerer tun, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Ihnen fallen alle Schritte schwer, in denen das Wort "Gott" vorkommt, erst recht aber der elfte, der zudem die Einladung zum Gebet enthält.

Dieser Kommentar - Denkanstoß zum Programm der Anonymen Alkoholiker - ist für alle gedacht, die sich für das A.A.-Lebensprogramm entschieden haben. Er soll vor allem denjenigen eine Hilfe sein, für die der Weg durch das Programm kein Spaziergang ist.

Diejenigen in unserer Gemeinschaft, die nicht religiös erzogen worden sind, die nie einer Religionsgemeinschaft angehört haben, meinen vielleicht, sie brauchten überhaupt keine Gebete. Aus ihrer Sicht heraus sind sie auch ganz sicher, dass sie noch nie gebetet haben. Einige von uns haben zu irgendeinem Zeitpunkt die Verbindung zu ihrer früheren Religion bewusst abgebrochen. Ob nun dieses Abbrechen der Brücke formal durch Kirchenaustritt vollzogen worden ist oder ob die Religionszugehörigkeit nur still eingeschlafen ist, feststeht, dass auch hier der Begriff "Gebet" zum Fremdwort geworden ist.

Bei denjenigen, die die Abkehr von ihrer Kirche bewusst vollzogen haben und deren Argumente für diesen Schritt auch in der Nüchternheit Bestand haben, rührt sich Widerstand, wenn der Elfte Schritt zur Sprache kommt. Vielleicht hat dieser Widerstand seine Ursache in aufkommendem Zweifel an der Richtigkeit des seinerzeit vollzogenen Bruchs. Jedenfalls ist die Befürchtung unbegründet, das im Elften Schritt empfohlene Gebet sei der Versuch einer Bekehrung durch die Hintertür.

Nicht nur für Kirchentüren

Wenn im Gruppengespräch über den Elften Schritt so argumentiert wird, ist an die Präambel zu erinnern, in der deutlich festgelegt ist, dass die Anonymen Alkoholiker mit keiner Sekte und mit keiner Konfession verbunden sind. A.A. ist auch keine Mafia, kein geheimer Verbündeter irgendeiner religiösen Gemeinschaft, um ihr abtrünnige Schafe wieder in die Herde zu treiben. Wenngleich gesagt werden muss, dass die Beschäftigung mit dem A.A.-Programm den einen oder anderen zur Überprüfung seines Kirchenaustritts veranlasst hat. Das aber spricht doch wohl nicht gegen dieses Programm.

Wenn wir davon ausgehen, dass dieses Programm samt dem Elften Schritt sowohl für den praktizierenden Katholiken wie für den bekennenden Protestanten, für den gläubigen Mohammedaner, für den Anhänger einer Sekte ebenso anwendbar und nützlich ist wie für den Atheisten, dann brauchen wir eine breite Definition des Wortes Gebet. Wir brauchen für das Verständnis dieses Wortes einen Schlüssel, der nicht nur in Kirchentüren passt.

Beten heißt, nach einer uns im Religions-Unterricht in der Schule vermittelten Definition "mit Gott sprechen". Das ist jedenfalls schon eine handlichere Formulierung als diejenige, die beten im Herunterleiern gereimter Verse versteht. Aber da ist auch wieder dieser "Gott" im Elften Schritt, dessen Überlieferer es uns, jedem von uns, anheim stellen, hier den Gott des eigenen Verständnisbegriffs einzusetzen.

Nun könnte man es sich einfach machen und sagen, wer beim Elften Schritt nach zehn vorausgegangenen mit Gott noch nichts anzufangen weiß, wer hier noch keinen Zugang gefunden hat, für den sei dieser Schritt vorerst noch eine

uneinnehmbare Festung. Manchmal geschieht so etwas im Meeting: Man schafft sich den unbequemen Frager bei der Behandlung des Elften Schrittes einfach vom Hals, indem man ihn herablassend auffordert, sich gefälligst erst einmal um vorausgegangene Programmpunkte zu bemühen.

So zu verfahren, ist ziemlich hochmütig, und eigentlich sollte dieser neunmalkluge A.A.-Ratgeber lieber selbst noch einmal vorn im Programm anfangen. Er ist möglicherweise ziemlich rasant durch das Programm geeilt: laut, staubaufwirbelnd, aber ohne dass das Programm bei ihm Spuren hinterlassen hat.

Nein, der Elfte Schritt ist kein Programmpunkt für "Fortgeschrittene". Jeder Schritt im Programm der Anonymen Alkoholiker kann der Eingangs-Schritt sein. So ist es ja auch in der Praxis: Immer mal kommt irgendein Neuer ins Meeting, vielleicht auch einmal in eins, in dem gerade über den Elften Schritt gesprochen wird. Abgesehen vom Ersten Schritt, der wirklich am Anfang unseres neuen Lebens steht, ist nämlich die Reihenfolge der Schritte zwei bis zwölf keine verbindliche Festlegung.

Der Zugang zu Gott, so wie wir ihn verstehen, ist jedenfalls aus einem Nachdenken über den Elften Schritt sehr wohl möglich. Vielleicht aus der simplen Erkenntnis heraus, dass wir eigentlich nie aufgehört hatten zu beten. Oder erinnerst Du Dich nicht mehr an die geschrieenen Hilferufe: Mach, dass ich nicht mehr trinken muss?

Ein Zugang zu Gott ist für viele auch das Überdenken all der schlimmen, oft lebensgefährlichen Situationen, in die wir in unserer und durch unsere Sucht geraten waren.

"Mein Gott, dass ich überhaupt noch lebe", wirft jemand als Nebenbemerkung im Meeting ein. Es ist ihm gar nicht bewusst, dass er mit diesem kurzen Satz mitten im Elften Schritt ist, mitten im Gebet. Dankbar sein, selbst wenn man noch nicht so ganz genau weiß, wem dieser Dank zu gelten hat, dankbar sein ist nichts anderes als beten.

Gebet im Ersten Schritt

Nichts anderes als Beten tun wir seit dem Ersten Schritt: Eigene Kraftlosigkeit einzugestehen heißt, auf die Hilfe einer stärkeren, höheren Kraft hoffen. Wenn diese Hoffnung zur Zuversicht wird (Zweiter Schritt), erwächst daraus Dankbarkeit. Und genauso wie wir nicht nur einmal getrunken haben, werden wir auch nicht nur einmal nüchtern. Beides sind Entwicklungsprozesse, von denen einer in der zur Katastrophe führenden Abwärtskurve verläuft. Wenn Nüchternwerden kein einmaliger Vorgang ist, brauchen wir die Hilfe der Höheren Kraft auch nicht nur punktuell in einem Augenblick unseres Lebens, sondern fortdauernd.

In der zur Sicherheit gewordenen Hoffnung, dass die uns zuteil gewordene Hilfe kein einmaliger Gnadenakt war, bitten wir denjenigen, der auch in der schlimmen Zeit seine schützende Hand über uns gehalten und der uns die Chance zum Neubeginn gegeben hat, dass Er auch künftig am Ruder bleibe. Das war der Dritte Schritt und das war Gebet!

Und wenn wir im Fünften Schritt mit Ihm über unsere Fehler Rücksprache genommen haben, wenn unsere Bereitschaft zur Mängelbeseitigung (6. Schritt) in den Reparaturauftrag (7. Schritt) mündete, dann war das Gebet. Auch als wir den Empfehlungen der Schritte acht und neun folgten und gleichsam in Seinem Auftrag unsere mitmenschlichen Beziehungen ordneten, waren wir mit Ihm in Kontakt und damit eigentlich mitten im Elften Schritt.

Wenn man diesen nämlich genau liest, merkt man, dass hier nichts grundlegend Neues in unser Lebensprogramm aufgenommen ist. "Our contact", wie es im Englischen heißt, unsere Verbindung zu Gott, wie wir ihn verstehen, soll nach der Empfehlung dieses Elften Schrittes verbessert werden. Der Schritt geht demnach davon aus, dass hier schon eine Verbindung vorhanden ist und zwar eine gute Verbindung. Es ist von verbessern die Rede, und "besser" ist die Steigerungsform von gut.

Expedition ins Innere

Zur Kontaktverbesserung - so empfiehlt es der Elfte Schritt - sollen wir uns der Mittel des Gebetes und der Besinnung bedienen. Dazu ist zunächst zu sagen, dass Gebet und Besinnung nicht zwei grundlegend verschiedene Dinge sind. Gebet ist ohne Besinnung kaum möglich; ernsthafte Besinnung kann man durchaus als eine Form des Gebetes bezeichnen.

Aber bleiben wir dennoch ein wenig bei dem Wort Besinnung; nicht weil es ein Modetrend geworden ist, in Yogastellung transzendental zu meditieren. Hier also sozusagen ein wenig Besinnung über das Wort "Besinnung", von der im Elften Schritt die Rede ist.

So wie man zum Atmen Luft braucht, so braucht man zur Besinnung Ruhe. Stille kann man nicht produzieren; aber man kann sie suchen. Es ist auch antrainierbar, sich regelmäßig für eine kurze Zeitspanne aus dem Getriebe zurückzuziehen. "Nur für heute will ich meine ruhige halbe Stunde für mich selbst haben und entspannen. In dieser halben Stunde will ich versuchen, eine bessere Sicht über mein Leben zu gewinnen." So heißt es unter "achtens' auf unserer kleinen Faltkarte mit den Empfehlungen für das "Heute".

Es böte sich an, an dieser Stelle eine langatmige Darlegung über die Bedeutung der Meditation in asiatischen Kulturbereichen einzufügen oder auch etwas über die kontemplativen christlichen Ordensgemeinschaften zu sagen, in denen man sich bei lebenslangem Schweigen nur der Beschaulichkeit hingibt. Dies Angedeutete aber mag genügen. Uns geht es um die im Elften Schritt des A.A.-Programms empfohlene Besinnung, die uns helfen soll, unser neues Leben in Nüchternheit und Fortentwicklung zu bestehen.

Auch dieser Begriff der "Besinnung", der in diesem Schritt erstmals im Programm auftaucht, ist im Prinzip nichts Neues. Vom Ersten Schritt an ist uns Besinnung über unser bisheriges Leben angeraten. Namentlich der Vierte Schritt, der uns die Inventur nahe gelegt hat, ist ein solcher Besinnungs-Schritt. Auch der Zehnte Schritt mit seiner Empfehlung, bewusst zu leben und immer wieder Kontrollpunkte anzusteuern, könnte mit dem Stichwort "Besinnung" gekennzeichnet werden.

Meditation? - Das Wort kommt aus dem Lateinischen; in der Sprachwurzel steckt etwas drin von, "messen, ermessen", im übertragenen Sinn auch das geistige Abmessen, die Standortbestimmung im Innern. Meditation ist also der Versuch, durch Nachdenken sich selbst besser kennen zu lernen. Dazu muss man in Ruhe in sich hineinhorchen. Die Expedition in unser Inneres hat uns schon bei der Inventur des Vierten Schrittes offenbart, dass es da unentdeckte Felder und ungerodete Wildnis gibt. - Wenn uns im Elften Schritt empfohlen wird, durch Besinnung die Verbindung zu Gott zu suchen, so ist dies keine sonderlich schwere Aufgabe. In der uns zugewachsenen und antrainierten Bescheidenheit sind wir gern bereit, Unerklärliches, auf das wir in der Besinnung stoßen, Seiner Beantwortung zu überlassen, haben wir doch im Dritten Schritt unser Leben und unseren Willen Seiner Sorge anvertraut.

Solcher Rückzug in unser Inneres kann fündig werden. Wer nämlich nicht weiß, wo was in ihm steckt, hat nichts griffbereit, wenn er etwas braucht. Wer nichts hat, kann nichts geben. Wer nicht in der Besinnung Neues entdeckt hat, kann auf Fragen nicht oder immer nur dasselbe antworten. Wer nie zur Besinnung kommt, bleibt in seiner Entwicklung stehen.

Die Frage als Wünschelrute

Die Wünschelrute bei solch einem Entdeckungsgang ins Innere ist die Frage. Auf vieles wird man in der Besinnung gedanklich eine Antwort finden. Aber in allen Kulturen der Welt, ob bei den Inkas in Peru, den Buddhisten in Indien oder den Mönchen im christlichen Abendland: Zur Meditation vertiefte Besinnung stößt überall an die Grenze des mit menschlichem Verstand und mit Erfahrung Erfassbaren. Was über das gedanklich Fassbare hinausgeht, bezeichnet man mit dem Fremdwort Transzendenz.

In solche Bereiche kommen wir im Besinnen über das so einfach ausgedrückte und doch so wunderbar weltenaufschließende A.A.-Programm. Es führt uns im zweiten Teil seiner Empfehlung des Elften Schrittes in die Demut des Programmpunktes sieben zurück.

Unser Gebet, das in der Besinnung geführte Zwiegespräch mit der Höheren Kraft, zielt auf den Wunsch, dass Er uns Seinen Willen erkennbar machen möge. Schon im Dritten Schritt haben wir unseren Willen dem Seinigen untergeordnet. Wir haben das gern, freiwillig und bescheiden getan, weil wir bis dahin mit dem krampfhaften und krankhaften Durchsetzenwollen des eigenen Willens keine besonders guten Erfahrungen gemacht hatten.

Ein kleines Wort noch aus dem Elften Schritt sollte am Schluss dieser Betrachtung nicht unter den Tisch fallen: "Nur" steht da an einer Stelle, 'praying only for knowledge of His will for us' heißt es im englischen Originaltext. Also Ihn bitten um nichts anderes als um die Erkenntnis dessen, was Er für uns will, was Er mit uns vorhat, welchen Weg Er uns zugedacht hat. Das setzt ein unendliches Maß an Vertrauen voraus und verweist all unsere lächerlichen Bittgebete mit gezielten Wünschen in die Kategorie der Kleingläubigkeit. Dieses "Nur" im Elften Schritt, dieses vorbehaltlose "Dein Wille geschehe" ist die höchste Vollendung der Gelassenheit, um die wir am Schluss des Meetings immer bitten.

Schließlich steht im Elften Schritt noch das Wort Kraft: Unsere eigene Kraft nämlich reicht nicht aus, Seinen Willen auszuführen. Deshalb steht die Bitte, Er möge uns einen Arm leihen, hier noch einmal ausdrücklich. Übergeordnet aber ist ganz sicherlich das Gebet um die Erkenntnis 'nur' Seines Willens.

Vieles in unserem Leben tun wir unbewusst. Ein Hauptanliegen des Programms der Anonymen Alkoholiker ist es, unser Leben, das bis dahin einfach so dahingeschludert ist, ins Bewusstsein zu rücken, damit wir es in Nüchternheit im Griff behalten. So unbewusst, wie uns vieles im Leben von der Hand geht oder durch die Finger gleitet, haben wir bisher oft auch gebetet. Ja, viele tun dies, ohne es wahrhaben zu wollen.

Sinn der vorstehenden Betrachtung war es unter anderem, klarzumachen, dass beten nicht unbedingt etwas Feierliches ist; nichts wozu man andächtig aufstehen oder die Hände falten muss. Wenn beten Kontaktaufnahme mit Gott, so wie wir Ihn verstehen, bedeutet, dann beten wir beispielsweise im Meeting oft, schon lange bevor wir es mit dem Gelassenheits-Gebet abschließen.

Ist Dir eigentlich klar geworden, dass die aufnahmebereite, nachdenkliche Beschäftigung mit dem vorstehenden Text eine Form des Gebetes war? Genauso wie wir beten, wenn wir gedankenlos die Redensart benutzen "Gottseidank".


DER ZWÖLFTE SCHRITT

Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.

Zusammenfassung und Auftrag ist der Zwölfte Schritt im Programm der Anonymen Alkoholiker. Er ist neben dem Ersten Schritt der Punkt unseres Programms, der uns am geläufigsten ist, weil darüber auch in der Gruppe relativ häufig gesprochen wird.

Manche Anonymen Alkoholiker kennen auch nur diese beiden Schritte: den Ersten, mit dem sie zu trinken aufgehört, und den Zwölften, nach dessen Auftrag sie dann unmittelbar tätig werden. Die amerikanischen A.A.-Freunde nennen diese Übereifrigen "Two-Steppers", was gar nicht geringschätzig und abwertend gemeint ist. Wissen wir doch aus Erfahrung, dass wir mehr oder weniger alle in unserer Anfangszeit mit diesem Zweigang-Getriebe gefahren sind.

Two-Steppers

Damit aber sind wir schon mitten in einer der Diskussionen, die um den Zwölften Schritt so gern geführt werden. Damit aber stecken wir auch schon mitten in dem verbreiteten Fehler, der dadurch entsteht, dass nur ein Halbsatz aus dieser Empfehlung herausgegriffen und gleichsam unbefugt als Auftrag verselbständigt wird. Aber bleiben wir einen Augenblick bei der Lesart des Zwölften Schrittes, die nur das Weitergeben der Botschaft im Sinn hat. Bleiben wir auch bei den "Two-Steppers" und der Meeting-Diskussion, ab wann jemand im Zwölften Schritt aktiv werden kann.

Wenn wir mit der Sturheit von Schriftgelehrten und Wortklaubern an diese Frage gehen, dann darf die Tätigkeit im Zwölften Schritt erst einsetzen, "nachdem" wir die anderen Schritte erarbeitet haben und unser Leben danach ausrichten. Diese Empfehlung macht "ein geistiges Erwachen" durch die vorausgegangenen Schritte zur Voraussetzung des Bemühens um andere Alkoholiker.

Lebensaufgabe

Wir sollten uns aber nicht mit juristischer Spitzfindigkeit an den Wortlaut einer Empfehlung klammem, sondern unser Handeln nach deren Sinn ausrichten. Würden wir nämlich mit dem Weitergeben der Botschaft tatsächlich alle warten, bis wir die vorausgestellten elf anderen Schritte vollständig zurückgelegt haben, dann kämen wir nie dazu, im Zwölften Schritt etwas zu tun. Die elf anderen Schritte nämlich sind - ebenso wie der Zwölfte - ein Auftrag für das ganze Leben. Hundertprozentig wird damit niemand fertig. Hätten also Bill und Bob mit dem Weitergeben der Botschaft gewartet, bis sie durch weiteres Bemühen um Vollkommenheit ihr "geistiges Erwachen" erlebt hatten, dann gäbe es heute wahrscheinlich überhaupt nicht die weltumspannende Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Nein, diese beiden Gründer der Gemeinschaft haben sich unmittelbar nach ihrer Begegnung in Acron einen dritten und einen vierten Alkoholiker gesucht. Dabei war ihr Motiv nicht in erster Linie missionarisch. Sie brauchten andere Alkoholiker zum Durchhalten in ihrem Vorsatz, nicht mehr zu trinken. Demnach waren also auch Bill und Bob "Two-Steppers", was für Dich, lieber neuer Freund, ein gutes Argument ist, wenn Dir irgendein staubtrockener Alt-A.A. ungerechtfertigt vorschreiben will, was Du zu tun oder zu lassen hättest.

Wir alle sind von der ersten halben Stunde an, die wir bewusst auf das Trinken von Alkohol verzichtet haben, ununterbrochen im Zwölften Schritt tätig. Und sei es nur durch unser Beispiel. Jeder Alkoholiker, der nicht trinkt, kann für den noch leidenden Alkoholiker eine Hilfe sein, wobei die Dauer der Nüchternheit auf Seiten des Helfenden zunächst von untergeordneter Bedeutung ist.

Vielleicht wird das an einem Beispiel deutlich: In tiefdunkler Nacht ist der Nachtblinde völlig hilflos. Er lässt sich aber bereitwillig bei der Hand nehmen von jemandem, der nur ein ganz klein wenig, nur einen schwachen Schimmer mehr sieht als er.

Die im Meeting als Argument ausgespielte Karte: "Wie kann ein Blinder einen Blinden führen?" sticht nicht. Der Alkoholiker, der auch nur ein einziges A.A.-Meeting besucht hat und seitdem nicht mehr trinkt, ist mit dieser einzigen Stunde des Nichttrinkens schon nicht mehr ganz so blind wie derjenige, der noch voll drin steckt. Und wenn er seinem Zechkumpan vom Nachmittag am Abend auf dem Nachhauseweg vom Meeting nur erzählt, wo er war, dann hat er schon zum ersten Mal etwas im Zwölften Schritt getan.

Zwölf Stufen

Damit sind wir bei diesen Denkanstößen über das unerschöpfliche Kapitel zwölf im A.A.-Programm auch bei der Frage, wie man im Zwölften Schritt wirken kann. Damit aber nähern wir uns auch gleichsam auf einem Umweg der Gesamt-Empfehlung dieses Schrittes. Gemeint ist, dass jeder immer nur so viel geben kann, wie er hat. Wenn der Fleischer in seinem Laden am Samstagabend nichts mehr vorrätig hat als ein Pfund Schweinefleisch, kann er Dir beim besten Willen kein Kilogramm verkaufen. So kann der neue A.A.-Freund nicht allein ins A.A.-Klinik-Meeting, weil er auf die dort gestellten Fragen von vielleicht zwanzig Alkoholikern selbstverständlich noch keine Antworten parat hat. Aber er kann seinem Kumpel am Arbeitsplatz, der auch ein Alkoholproblem hat, erzählen, dass er durch die Begegnung mit den Anonymen Alkoholikern einen Hoffnungsschimmer in seinem bis dahin verzweifelten Anrennen gegen die Sucht sieht. Das ist Zwölfter Schritt, denn unsere zwölf Schritte heißen in der Originalsprache, in der sie zuerst aufgeschrieben worden sind, "twelve Steps", was treffender übersetzt wäre mit "zwölf Stufen". Und so wie wir uns durch das A.A.-Programm stufenweise aufwärts bewegen, so wird stufenweise auch unser Wirken im Zwölften Schritt durch das Vorleben des Programms überzeugender.

Vielleicht rühren manche Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten über den Zwölften Schritt einfach daher, dass sich viele unter dem "geistigen Erwachen" etwas Falsches vorstellen. Dieses geistig-seelische Erwachen ist jedenfalls kein Augenblicksereignis, kein Erwachen wie morgens beim Klingeln des Weckers. Das ist ein langsam sich entwickelnder Prozess, ein nie endendes Abenteuer.

Dieses geistige Erwachen geschieht nicht so, wie ein dunkler Raum durch einen Knopfdruck in gleißendes Licht gehüllt wird. Wenn schon ein Vergleich mit dem Bild des Lichtes, dann ist es wohl eher so, dass wir durch unser Programm eine Lampe in die Hand bekommen, mit der wir immer neue Felder unseres Ichs ausleuchten können.

Diese Taschenlampe ist uns nicht nur zum Ausleuchten unseres eigenen Lebensweges in die Hand gegeben. Das meint der Zwölfte Schritt, der die breitere Darlegung des Präambelsatzes ist, wonach es Hauptzweck unserer Gemeinschaft ist, nüchtern zu bleiben und anderen Alkoholikern zur Nüchternheit zu verhelfen. Diese beiden Aufgaben stehen ranggleich nebeneinander. Und wenn man nach dem Sinn und Ursprung unserer Gemeinschaft forscht, wenn man erstaunt vor ihrem Wachstum steht, dann könnte man zur Erklärung ein Wort dieses Präambelsatzes austauschen. "Unser Hauptzweck ist, nüchtern zu bleiben, i n d e m wir anderen Alkoholikern zur Nüchternheit verhelfen."

Im Gegensatz zu gelegentlich in Meetings geäußerten Meinungen, gibt es bei A.A. keinerlei Rezepte und Empfehlungen, wie jemand diesen Auftrag des Zwölften Schrittes anzupacken habe. Hier soll Ansichten widersprochen sein, die etwa so klingen: "A.A. geht nicht zu jemanden, A.A. hilft nur, wenn nach Hilfe gerufen wird; A.A. macht dieses, A.A. macht jenes nicht." Eigentlich ist es verwunderlich, woher diejenigen, die so etwas sagen, ihre Weisheit schöpfen.

Keine Bedingungen

Nirgends ist derartiges festgelegt. Wenn im Gruppengespräch über den Zwölften Schritt gesprochen wird, so kann jeder nur seine Erfahrungen beisteuern. Dabei mag eine Meinung geäußert werden, dass dies oder jenes zweckmäßig, dass anderes wenig sinnvoll ist im Bemühen um andere Alkoholiker. Aber Vorschriften sind dies alles nicht.

Die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker hat nämlich keine Aufnahmebedingungen. Der Zwölfte Schritt sagt nichts aus über die Alkoholiker, denen wir die Botschaft weitergeben sollten. Es steht nicht einmal dabei, ob es sich um nasse oder trockene Alkoholiker handelt. Auch von dem Grad der jeweils vorhandenen oder nicht vorhandenen Therapie-Willigkeit ist nicht die Rede.

Langzeit-Wirkung

In der Praxis sieht doch das auch so aus, dass beispielsweise bei einer Information in der Klinik die Alkoholiker-Patienten nicht entsprechend sortiert sind. "Anderen Alkoholikern helfen", heißt es in der Präambel. Diese Hilfe kann auch in der Langzeit-Wirkung einer Information bestehen: der betroffene Alkoholiker wird sich vielleicht viel später erinnern an das, was Du ihm irgendwann einmal von A.A. erzählt hast. Dann möglicherweise," wenn in ihm der Wunsch aufdämmert, mit dem Trinken aufzuhören. Eine Früh-Information kann das schaffen, was nach unserer Präambel die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu unserer Gemeinschaft ist.

Seitenweise könnten jetzt hier Anregungen angefügt werden, wie man die A.A.-Botschaft weitertragen kann und wie man dabei am zweckmäßigsten zu Werke geht. Der Erfahrungs-Austausch darüber soll Gruppengesprächen und anderen Schriften aus dem A.A.-Literatur-Angebot überlassen bleiben. Hier nur einige wenige Gedanken:

Nüchtern werden und bleiben ist die Hauptsache im Zwölften Schritt. Wenn Du, von dem mehr oder weniger viele Leute in der Trinkerzeit Bescheid wussten, nun ein nüchternes Leben vorlebst, dann ist dies das Beste, was Du im Zwölften Schritt tun kannst. Wer darüber hinaus den Mut aufbringt, sich auf entsprechende Fragen bei passender Gelegenheit als Alkoholiker oder gar als "Anonymer Alkoholiker" zu bekennen, der tut viel im Zwölften Schritt und für die noch leidenden, von der Gesellschaft diskriminierten Alkoholiker.

Manche unserer A.A.-Freunde haben ein permanent schlechtes Gewissen, weil sie meinen, nicht genug im Sinne des Zwölften Schrittes zu tun. Sie seien daran erinnert, dass dieser Programmpunkt beinhaltet, dass wir nach unseren Schritten leben sollten. Wer das tut, wer im Programm lebt, ist für sich und durch sein Beispiel für andere im Sinne des Zwölften Schrittes tätig. Im übrigen sei hier nur angedeutet, dass die Teilnahme am Meeting, die Übernahme selbst kleiner Verantwortungen, dass der Beitrag für die Hutsammlung, dass alles, was der A.A.-Gemeinschaft dient, Aktivität im Sinne des Zwölften Schrittes ist. Dieser Zwölfte Schritt besteht nicht, wie es zunächst den Anschein hat, aus zwei Teilen: einmal in der Übernahme des Programms für das eigene Leben, zum anderen im Weitertragen der Botschaft. Sinn dieser Erläuterungen ist, deutlich zu machen, dass diese beiden Aufgabenfelder des Zwölften Schrittes eine Einheit sind. Nur der kann überzeugend "anderen zur Genesung vom Alkoholismus verhelfen", der sein "tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten" bereit ist.

Der so vollzogene Zwölfte Schritt mit der Bereitschaft, nach dem A.A.-Programm zu leben, nimmt uns in die Gemeinschaft auf, in der es um viel mehr geht als ums Nichtmehr-Trinken. Wer im Programm lebt und dieses Leben mit seinem früheren vergleicht, für den gibt es an der Gültigkeit dieser Aussage keinen Zweifel.

Am Schluss noch ein Wort an die Verzagten, die immer meinen, sie schafften es nie, im Programm zu leben; sie sollten den Zwölften Schritt genau lesen. Es heißt dort nicht, dass wir nun allein Vollkommenheit und Sanftmut gleichsam mit dem Heiligenschein umherlaufen. "Versuchten wir" nach diesen Grundsätzen zu leben, heißt es im Zwölften Schritt, in dem auch von "Botschaft" die Rede ist.

Wer es verstanden hat, möchte an dieser Stelle lieber von "Froh-Botschaft" sprechen, wobei vielen ein unerschöpflicher Hilfsquell im Streben nach einem Leben in zufriedener Nüchternheit unser Gelassenheitsspruch ist:

Gott gib mir Gelassenheit Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann,
Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit,
den Unterschied zu erkennen. R.Niebuhr

Unser Weg
Herausgegeben und ©: Anonyme Alkoholiker deutscher Sprache
6. Auflage 28.-32. Tausend
Druck: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, Heimstetten bei München
Printed in Germany

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