Infotext zu den Schritten

Danke an Christian der uns die Texte zur Verfügung gestellt hat.  

Bekannt aus dem AA-Dach ( unter: Habt eine wertvolle Zeit Christian Österreich )

Das sind meine persönlichen Erfahrungen mit den Anonymen Alkoholikern und ihren 12 Schritten und meine persönliche Sichtweise. Mein Name ist Christian, ich bin Alkoholiker und seit einigen Jahrzehnten trocken und clean mit den Anonymen Alkoholikern (kurz AA) und ihren 12 Schritten unterwegs.

Zum besseren Verständnis ein paar Worte über die Entstehung der Gemeinschaft AA.

Die Anonymen Alkoholiker gibt es seit nunmehr über 80 Jahren auf der ganzen Welt. AA und die 12 Schritte wurden nicht von jemandem erfunden, sondern bei der Entstehung von AA haben viele Faktoren zusammen gewirkt. Sehr vereinfacht könnte man sagen: Zwei von der Medizin abgeschriebene, als hoffnungslos erklärte Alkoholiker, die verzweifelt eine Lösung suchten, haben sich getroffen. Was sie beide mitbrachten war das Wissen um die Aussichtslosigkeit der Krankheit und die Suche nach einer spirituellen Lösung. Einer wusste auch schon, dass es ihm helfen würde, mit anderen Alkoholikern zu sprechen. So sind die beiden zusammen getroffen, und die Kombination ihres Wissens verbunden mit dem Wunsch, anderen Alkoholikern zu helfen, ließ die AA entstehen. Sie arbeiteten mit anderen Alkoholikern und wurden mehr. Nach ca. 3 Jahren waren sie fast 100 und wagten zu glauben, dass sie eine Lösung gefunden hatten. Das versuchten sie aufzuschreiben, und das sind unsere Schritte, unser Genesungsprogramm. Die 12 Schritte hat also nicht jemand erfunden; sie sind die Erfahrungsessenz der ersten 100 Überlebenden. Und sie funktionieren weltweit nach wie vor in dieser Form. Diese 12 Schritte werden auch von anderen Selbsthilfegruppen oder bei anderen Suchtproblemen oder anderen Schwierigkeiten sinngemäß verwendet.

Ich möchte Euch nun einige Gedanken zu den 12 Schritten rüber bringen:

1. Schritt: Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind und unser Leben nicht mehr meistern konnten.

Im 1. Schritt akzeptiere ich, dass ich Alkoholiker bin - oder was auch immer - und beginne das Wesen der Krankheit zu verstehen. Ich erkenne, dass ich mit meiner Kraft alleine keine Lösung zustande gebracht habe; ich erkenne, dass mein Leben unlebbar geworden ist, bzw. ich werde mit der Frage konfrontiert, ob das, was ich lebe, das ist, was ich leben möchte.

2. Schritt: Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wieder geben kann.

Ich bekomme Hoffnung: Ja, es gibt Lösungen. Mit meiner Kraft allein nicht, aber mit dieser Kraft, größer als ich. Die Gruppe genügt mal als Anfang. Langsam werde ich reif, Hilfe anzunehmen, und es entsteht allmählich der Wunsch, diese Hilfe auch zu wollen und auch gesund werden zu wollen. Das Symptom allein beseitigen mag für den Anfang genügen, aber gesund werden ist einfach die lohnendere Perspektive.

3. Schritt: Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen.

Eine Auswirkung der Suchtkrankheit ist ja eine verzerrte Wahrnehmung der Realität - nicht nur, wenn ich gerade betrunken bin. Beim 3. Schritt komme ich drauf, dass es außer Alkohol noch viel mehr im Leben gibt, das ich nicht im Griff habe, und dem gegenüber ich machtlos bin. Im 2. Schritt habe ich begonnen, mir Gedanken über etwas Höheres zu machen. Nun komme ich drauf, dass es da etwas Höheres, Ordnendes, Liebendes gibt und beginne, dieser Höheren Macht auch den Rest meines Lebens anzuvertrauen. Anfangs gezwungenermaßen, weil ich nicht mehr kann, nach und nach freiwilliger, weil ich erkenne, wie sinnlos es ist, gegen etwas anzukämpfen oder sich Sorgen zu machen über etwas, auf was ich momentan keinen Einfluss habe.

4. Schritt: Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.

Nun habe ich die Chance, mich kennen zu lernen. Ich wage mich anzuschauen, wer ich bin, was ich bin, meine Wünsche und Antriebe. Auch meine Vergangenheit. Alles, was sich an Fehlern, Schuld, Scham und Angst etc. angesammelt hat. Es ist ein Großreinemachen. Ich lerne das Werkzeug des Schreibens zu verwenden und merke, dass ich Zugang zu Bereichen finde, die versteckt und eingemauert waren.

5. Schritt: Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.

Gott sei Dank bleibe ich mit dem Gefundenen nicht alleine. Ich gebe es Gott gegenüber zu und dann mir. Würde ich an dieser Stelle nicht einen liebenden Gott haben, dem ich es zugebe, müsste ich sofort wieder verdrängen, rationalisieren, beschönigen etc.. Ich spreche mit einem Menschen meines Vertrauens darüber. Das kann ein Freund, Sponsor, Therapeut oder ein Priester sein. Ich erlebe, dass ich mir selber vergeben kann und auch dass ich trotz allem angenommen werde. Vieles rückt sich zurecht. Ich verstehe nun auch besser, dass es Mechanismen und Verhaltensmuster in meinem Leben gibt, die das Entstehen von Lebensqualität und Zufriedenheit beharrlich verhindern.

6. Schritt: Wir wurden völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.

Ich erkenne, dass mein Ego viele dieser selbstzerstörerischen, lebensfeindlichen Dinge nicht hergeben möchte, bzw. ich komme dahinter, wie machtlos ich manchen gegenüber bin, und dass es mit meiner Kraft allein einfach nicht geht, für etwas eine Lösung zu finden und zu leben. In der AA-Literatur steht, wenn ich nicht bereit bin, soll ich um Bereitschaft beten, bis sie sich einstellt. Es hat beim Alkohol so funktioniert – es funktioniert auch so bei allen anderen Dingen.

7. Schritt: Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.

Im Bewusstsein meiner menschlichen Grenzen erkenne ich nun, wozu ich selber nicht in der Lage bin bzw. was ich alles noch immer nicht hergeben will. Bei so manchem bete ich darum und es verschwindet wirklich. Wenn nicht, vertiefe ich noch einmal den 4. Schritt und die folgenden. Nach und nach werde ich ein anderer, ein gesünderer Mensch

8. Schritt: Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden willig ihn bei allen wieder gut zu machen.

Der Wiedergutmachungsschritt. Der Zweck der Sache ist: Ich stehe zu meiner Vergangenheit, ich komme zur Ruhe und zurück zu den Menschen. Sucht ist eine einsame Krankheit. Ich wage einen Blick auf meine Vergangenheit und alle beschädigten und zerstörten zwischenmenschlichen Beziehungen und werde bereit, wieder gut zu machen, z.B. offene Geschichten mit Ämtern, Behörden und Banken zu regeln. Ich höre auf, gegen zu rechnen und vergebe anderen. Ich schaue mir meinen Teil an und werde bereit mich zu entschuldigen, es in Zukunft anders, vor allem besser zu machen. Ich werde ein freier Mensch unter Menschen.

9. Schritt: Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut - wo immer es möglich war -, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.

Dort, wo es angebracht ist und nicht weiteren Schaden verursacht suche ich z. B. ein Gespräch und entschuldige mich. „Es sei denn“ bedeutet, ich soll das Wohl des anderen nicht aus den Augen verlieren. Manchmal ist es besser, nichts oder vorerst nichts zu machen. Aber ich bin bereit, falls sich die passende Gelegenheit ergibt.

10. Schritt: Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu. Tägliche Arbeit – tägliche Kurskorrektur.

Ich setze das täglich um, was ich in den 9 Schritten vorher gelernt habe. Fehler zumindest mir selber sofort zuzugeben, kann Stunden an Groll, Selbstmitleid oder sonst wie verqueren Gedanken ersparen. Täglich ein kurzer, schriftlicher Tagesrückblick ist ein praktisches Werkzeug, sich mehr und besser kennen zu lernen, das Erlebte zu verarbeiten und sich zu orientieren, wie man weiter leben möchte.

11. Schritt: Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott, wie wir Ihn verstanden, zu vertiefen. Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.

Inzwischen habe ich erkannt, dass diese Verbindung mit einer Höheren Macht oder Gott oder was auch immer eine Quelle der Kraft und Ruhe in meinem Leben geworden ist. Einerseits ist es mir ein Bedürfnis geworden, diese Verbindung zu pflegen, andererseits kann ich etwas, das ich ständig übe, im täglichen Leben auch effektiver verwenden. Bei der AA geht es um einen praktischen Glauben, der im täglichen Leben Orientierung, Kraft, Freude und Sinn gibt.

12. Schritt: Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.

Hier geht es um Lebensfreude. Ich habe durch alle diese Schritte ein reiches, erfülltes Leben bekommen, wo ich einfach nicht mehr trinken brauche. Ich bin nicht mehr der Arme, der nicht mehr darf und sich vorm Alkohol verstecken muss. Und aus dieser Begeisterung für dieses neue und wertvolle Leben entsteht auch der Wunsch, es an die weiter zu geben, die es auch haben wollen.

 Meetingsablauf:

Um sich über die Erfahrungen mit diesen Schritten oder dem Genesungsprogramm auszutauschen, treffen sich die Anonymen Alkoholiker in sogenannten Meetings. Meist am Abend 1,5 Stunden, auch unter Tags, manchmal auch nur eine Stunde, von 2-3 bis 30 oder 40 Personen. In Wien kann man z. B. täglich zwischen 5 - 9 Meetings wählen. Das Meeting „leitet“ immer wer anderer oder jemand übernimmt diesen Dienst für eine bestimmte Zeit, z. B. 3 Monate oder ein Jahr. Bei uns gibt es Rotation in den Diensten, das verhindert Sesselkleber und Gurus. Wir sind alle gleich. Manche sind neu, manche sind schon seit Jahrzehnten dabei. Wir reden uns mit „du“ und dem Vornamen an. Der Rest ist nicht so wichtig. Das, was uns verbindet, ist die gemeinsame Krankheit und der Wunsch gesund zu werden. Wenn wir uns auf diesen Hauptzweck konzentrieren, können wir sehr wirksam miteinander arbeiten.

Am Anfang dieser Meetings wird die Präambel vorgelesen:

Anonyme Alkoholiker sind eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die miteinander ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen, um ihr gemeinsames Problem zu lösen und anderen zur Genesung vom Alkoholismus zu verhelfen. Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Die Gemeinschaft kennt keine Mitgliedsbeiträge oder Gebühren, sie erhält sich durch eigene Spenden. Die Gemeinschaft AA ist mit keiner Sekte, Konfession, Partei, Organisation oder Institution verbunden; sie will sich weder an öffentlichen Debatten beteiligen, noch zu irgendwelchen Streitfragen Stellung nehmen. Unser Hauptzweck ist, nüchtern zu bleiben und anderen Alkoholikern zur Nüchternheit zu verhelfen.
Das ist eine Kurzform, was wir sind und was nicht. Dann stellt der Leiter die 3 Fragen: „Mag wer das Meeting leiten?“ Das gibt jedem die Möglichkeit, diesen Dienst zu tun und stellt klar, dass der Leiter nichts besonderes ist. 2. Frage: „Problem, Erfreuliches, hat wer Druck, den er gleich teilen will?“ 3. Frage: „Wunschthema?“ Hier hat man die Chance, aktuelle Anliegen zu thematisieren, z. B. jemand erlebt demnächst seine erste trockene Weihnachtsfeier und hat Angst und Zweifel, überhaupt hinzugehen. Es wird ihm keiner sagen, was er zu tun hat, aber nach dem Meeting geht er mit 10-20 Erfahrungen zu diesem Thema heim und entscheidet nun selbst, was er zu tun hat. Dann lesen wir meist unsere 12 Schritte vor. Wenn es kein Wunschthema gibt, schlägt der Leiter entweder einen Schritt oder sonst ein Thema aus unserer Literatur vor. Es gibt einen kurzen Erfahrungsbericht, dann gibt es freie Wortmeldungen, die der Leiter entgegen nimmt. Die Redezeit richtet sich nach der Teilnehmerzahl und der gesamten Meetingszeiten und sollte sich gerecht auf alle aufteilen. Es ist alles freiwillig, wer nicht mag redet nichts. Wenn man sich nicht an das Thema hält, ist es auch okay. Es bringt aber mehr, sich auf das Thema und die Lösung zu konzentrieren, als im Problem herum zu rühren. Es wird nicht diskutiert, wir geben keine Ratschläge, es spricht immer nur einer und nur von sich selbst. Fragen werden vor oder nach dem Meeting gestellt.
Das Meeting ist ein sicherer Ort, wo ich beginnen kann, über mein Leben zu reflektieren, ohne mich gleich zu betrinken. Hier kann ich im geschützten Rahmen anfangen nachzudenken, wie ich weiter machen möchte.Das sind meine persönlichen Erfahrungen mit den Anonymen Alkoholikern und ihren 12 Schritten und meine persönliche Sichtweise.Wenn Sie mehr über die AA wissen möchten:

E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!   http://www.anonyme-alkoholiker.at

 

Texte von Christian:

„Wenn dir dein Glaube keine Freude macht, such’ dir einen anderen.“

Wenn im Meeting wieder mal das Thema Glaube angeredet wurde, war ich überzeugt, es würde mich nicht betreffen. Ich hatte und brauchte so was nicht. Ich war wegen Alkohol da. Immerhin wehrte ich mich nicht allzu sehr gegen derlei Gedanken, um nach einiger Zeit entsetzt darauf zu kommen: Ich hatte einen fast unerschütterlichen Glauben an das Unglück und das Schlechte in der Welt gepaart mit einem inzwischen schon etwas ramponierten Glauben an die Wirkung von dem, was ich schluckte und dass ich damit wohl mit meinem Leben klarkommen würde.  Ich hörte: „Glaube heißt Vertrauen, nicht Misstrauen.“ (12+12 Seite 29). Von Vertrauen hatte ich nicht viel, von tiefem Misstrauen konnte ich schon reichlicher anbieten. Von meiner Umwelt erwartete ich fast ausschließlich Negatives. Meine reflexartige Erstreaktion auf Dinge des täglichen Lebens war fast immer ein: „Nein, ich kann das nicht! Das ist mir zuviel! Ich halte das nicht aus!“ Irrtum. Ich hielt es aus, und ich lernte und wuchs daran. Ich hörte und in mir wuchs auch langsam der Glaube: „Ich bekomme nicht mehr, als ich tragen kann.“ In einem der AA-Bücher las ich etwas von über 2 Millionen trockenen Alkoholikern in AA. In mir wuchs der Glaube an AA, die Gruppe und dass es auch bei mir funktionieren könnte. Es entstand ein Glaube an die Schritte, ans Programm und dass es auch für mich möglich wäre in AA nicht nur trocken sondern heil und gesund zu werden. Meine Gruppe und AA wurden zur Höheren Macht. Ein AA-Freund zitierte seinen Sponsor: „Wenn dir dein Glaube keine Freude macht, such’ dir einen anderen.“ Nein, mit großen Teilen meines Glaubens hatte ich keine Freude. Ich konnte mir erlauben meine Zugehörigkeit zu der Religion, die ich von zu Hause mitbekommen hatte, zu beenden. Mein Gott wurde konfessionslos. Ich entdeckte unser Buch „Wir kamen zu dem Glauben“. Eine Weile noch ließ ich es misstrauisch auf dem Literaturtisch liegen. Als die Zeit reif war, kaufte ich es, nahm es mit und begann darin zu lesen. In Teilen von manchen Geschichten fand ich mich wieder und konnte wieder ein Mosaiksteinchen zu meinem damaligen Glauben hinzufügen. Inzwischen verringerten sich meine Berührungsängste vor dem Ausdruck „Gott“, und meine Höhere Macht wurde langsam zu „Gott wie ich Ihn verstehe“.  Ich suchte weiter nach „meinem“ Glauben. Ich war zwar auf dem Land aufgewachsen, aber als ich zu AA kam, war mein Bezug zur Natur komplett tot. Nun merkte ich, dass ich langsam wieder Zugang zu Gottes wunderbarer Schöpfung bekam. Ich erkannte zunehmend, welche geniale Ordnung hinter all diesen Dingen steht und kam für mich zu dem Schluss: ‚Wenn Gott so genial für alles sorgt und ich bin auch da, dann wird ja wohl auch für mich und mein Leben in dieser Welt ein Platz vorgesehen sein.’ Ich kam zu dem Glauben, mein Gott sorgt ausreichend für mich. Wenn ich wieder mal gegenteiliger Meinung war, versuchte ich es mit einer Dankbarkeitsliste, um dann immer wieder darauf zu kommen, irgend etwas meinte es gut mit mir. Schön langsam kam ich zu dem Glauben: ‚Ich kriege, was ich brauche – auch wenn ich das nicht immer gleich einsehen kann.  Als ich mich mit Gedanken des 8. Schrittes tiefer befasste, wurde mir bewusst, dass es nicht genügte, mit meinem Kindheitsglauben einfach nur zu brechen. Ich bemerkte, dass ich nach wie vor versuchte, mit Gott Geschäfte zu machen bzw. ich erwartete immer wieder Strafe für mein Handeln. Wenn ich dann wieder in unserer Literatur las, stand da immer nur etwas von einem liebenden Gott. Ich versuchte, meinen Kindheitsglauben nicht mehr nur zu beenden, sondern mit ihm auch Frieden zu schließen. Langsam hörte Gott auf, ein strafender, rächender zu sein und wurde zu einem liebenden Gott. Ich las weiter in unseren Büchern. Auch ich musste mich immer wieder „furchtlos der Frage stellen, ob Gott alles ist oder ob Er nichts ist.“ (Blaues Buch, Seite 61). Ich brauchte immer wieder viel Schmerz, Krankheit oder Leidensdruck um mich zu dem Glauben an einen liebenden Gott zu entscheiden, den ich heute schon manchmal erleben kann. Ich war früher viel zu wichtig, ich hatte für Gott fast keinen Platz in meinem Leben vorgesehen.  Inzwischen geht’s oft schon fröhlicher und feiwilliger den liebenden Gott in mein Leben reinzulassen. Rückblickend sehe ich, wie sich mein Glaube immer wieder verändert und entfaltet hat. Er ist zu einem lebendigen Prozess geworden, an dem ich hoffentlich noch eine Weile teilhaben darf.
Habt eine wertvolle Zeit miteinander, Christian, Alkoholiker, Österreich

„...Niemand soll etwas davon erfahren. Wir möchten sie mit ins Grab nehmen.“ (12+12, Seite 53)

Scham oder Alkohol? Was war zuerst? Wann war ich denn nun Alkoholiker?
Da fällt mir das Blaue Buch ein, Seite 74: „Der Alkohol war dabei nur ein Symptom. Wir mussten also bis zu den Ursachen und inneren Voraussetzungen vordringen.“ Natürlich gab es da viel zum Schämen wegen dem Alkohol. Mein erstes gröberes Blackout mit 20. Da hat es mitten in einem kleinen Fest mit fast 100 Leuten ab Mitternacht bei mir ausgesetzt. Keine Ahnung, was ich da noch gemacht habe, bis ich dann in irgendeiner Ecke rumgelegen bin bis in den Morgen. Ein bisschen was davon hat mir ja meine Ex erzählt – peinlich! So was passiert mir nie wieder, hab ich mir geschworen. Das ist mir so weit gelungen. Ich ging nämlich auf fast keine Feste mehr, und wenn eins „sein musste“, war ich für meine Begriffe fast abstinent – jedenfalls meistens. Mein Umfeld hatte mich schon angeredet, dass vielleicht mit meiner Trinkmenge etwas nicht stimmen könnte. Meine Reaktion war nun heimlich zu trinken, wofür ich mich in meinem tiefsten Inneren schämte. Es kam oft vor, dass ich mitten in der Nacht zu mir kam und versuchte zu rekonstruieren, wo ich war, wie ich ins Bett gekommen war, was passiert war. Manchmal Erleichterung, sehr oft ein Loch oder eine Begebenheit, die mich bloßgestellt hatte oder ich war verletzend gewesen. Mir wurde heiß vor Scham. Oder ich erkannte kurz ganz klar, wie es um mich stand und stellte fest, dass ich bei meiner Talfahrt die Bremse nicht mehr finden konnte. Es kam noch viel dazu, wofür ich mich sehr schämte. Ich versuchte, diese Gefühle mit dem Trinken abzutöten, was mir anfangs zeitweise gelang, später jedoch immer weniger. Ich glaube, so wurde es von vielen anderen auch erlebt. Irgendwann wars nur noch dieser verzweifelte Versuch, mit Alkohol diese schrecklichen, schreienden Gefühle von Angst, Verzweiflung, Scham, Schuld und Selbstgeißelung irgendwie zum Schweigen zu bringen. Aber dieser verzweifelte Versuch funktionierte einfach nicht mehr. Als ich dann in AA langsam trocken wurde, stellte ich zwar manchmal eine selbstbewusste Fassade zur Schau, aber dahinter war ein total verklemmtes, gehemmtes Angstbündel, randvoll mit Unzulänglichkeitsgefühlen. Nicht einmal trinken konnte ich mehr! Natürlich schämte ich mich auch dafür. Ich wollte kein Alkoholiker sein. Ich empfand mich als Verlierer. Lange sagte ich kein Wort in den Meetings, weil ich zu feig dafür war. Ganz langsam schaffte ich es, mich manchmal zumindest vorzustellen und ein bis zwei Sätze rauszupressen. Ich bemerkte, dass Aussprechen des: „Ich heiße Christian, ich bin Alkoholiker“, etwas in mir veränderte. Ich begann meine Alkoholkrankheit Stück für Stück mehr anzunehmen, mich immer weniger dafür zu schämen. Ich bemerkte, dass es draußen im Leben langsam leichter wurde, Getränke abzulehnen, und auch wirklich innerlich zu mir stehen. Was das Zusammenleben mit anderen bezüglich des Nichttrinkens betrifft, gings ja nach einiger Zeit schon recht gut. Aber die Scham für mich und meine Vergangenheit drückte mich immer wieder nieder. Wenn ich nicht gerade eine Panikattacke hatte oder ausgiebig auf jemanden grollte, quälten mich so Gedanken: „Oh, was war ich für ein Schwein gewesen, als ich noch jeden Tag besoffen war!“
Von Freunden, die mit den Schritten arbeiteten erfuhr ich, dass eine schriftliche Inventur da helfen würde. Mit zäher Beharrlichkeit schob ich diese Idee, eine Weile vor mir her, bis ich in 12+12, Seite 53 über folgende Zeilen stolperte: „...die Scheu vor dem 5. Schritt. Manche bleiben überhaupt nicht trocken, andere haben immer wieder Rückfälle, bevor sie nicht endlich einen gründlichen Hausputz gemacht haben.“  Das war mir nun gar nicht recht; alles nur das nicht! So begann ich also gezwungenermaßen mit meiner ersten Inventur und versuchte, einige meiner wiederkehrenden Schuldgefühl- und Schamgeschichten in Worte zu fassen. Schon vor dem 5. Schritt hatte ich mir mit meinem Sponsor ausgemacht, ihm meine schriftliche Inventur zum Lesen zu geben. Ich hatte nämlich bei früheren Versuchen über Schuld- und Schamgeschichten bemerkt, dass ich dazu neigte, Vorfälle teilweise unter den Tisch fallen zu lassen oder umzuschminken, um doch noch ein bisschen besser dazustehen. Die für mein damaliges Empfinden besonders schlimmen Verfälle hatte ich mir bis zum Schluss aufgehoben, und es gelang mir wirklich, alles auszusprechen. Ich war geschafft und erleichtert. Auch nach diesem ersten 5. Schritt kamen diese Geschichten immer wieder wie ein Schlag in die Magengrube. Aber ich konnte mir jedes mal sagen: „Ja, so war es, es ist okay, es ist vorbei, ich habe darüber geredet, und ich möchte so nicht mehr leben.“ Und es wurde wirklich von Mal zu Mal leichter.  Gott sei Dank wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht, dass erst die Spitze des Eisberges aufgetaucht war. Es kamen noch viele Inventuren nach, und mit der Zeit konnte ich mich besser kennen lernen und in die Tiefe gehen. Ich kam drauf, dass ich mich nicht nur für Situationen der nassen Zeit geschämt hatte, sondern dass ich noch einiges an früheren Prägungen und Altlasten im Rucksack mit dabei hatte. Langsam tauchten auch Kindheit und Jugend wieder in meiner Erinnerung auf, und ich bekam wieder Zugang zu alten Erlebnissen und Gefühlen. In meiner Kindheit wurde der meiste Besuch bei uns zu Hause möglichst fern gehalten, und zwar deshalb, weil sonst die Leute über uns reden würden. Das wurde mir zumindest gesagt. Das vermittelte mir den Eindruck, dass ich mich für mich und meine Familie schämen müsste.  Mein großer Bruder wurde bevorzugt und gefördert. Ich bekam das, was noch übrig blieb. Zumindest habe ich es so gefühlt und erlebt. Ich schämte mich für mich selber, weil ich so war, wie ich war. „Ich bin nichts, ich habe nichts, ich kann nichts, ich darf nichts.“ Mit diesem Bild von mir selber bin ich aufgewachsen. Ein leicht zu bekommendes Nutzobjekt für einen schwulen Erzieher, der mich in meiner Jugend jahrelang missbrauchte. Mich abzugrenzen, nein zu sagen lernte ich erst viel später ganz langsam mit AA und den 12 Schritten. Meine damalige Überlebensstrategie war Flucht und Verdrängen. Für dieses Vorhaben waren Alkohol und Drogen eine nützliche Hilfe. Ich begab mich in meine Scheinwelt und war fest davon überzeugt, es hat mir alles nichts ausgemacht. Und nun beim Inventurschreiben kam ich drauf, dass es doch nicht so einfach war. Viele alte Gefühle tauchten wieder auf. Quer durch die ganze Palette. Angst, Groll, Wut, Verbitterung. Vor allem der in die hinterste, unterste Lade verdrängte Bereich Sexualität war überwiegend mit Schuld, Ekel und Scham besetzt. Am liebsten wäre ich wieder davon gelaufen, und ich erlebte es so, wie es im 12+12, Seite 53 geschrieben steht: „...unser Geheimnis. Niemand soll etwas davon erfahren. Wir möchten sie mit ins Grab nehmen.“  Aber das Darüber-Reden half auch bei diesen Dingen. Langsam konnte ich mich und mein Leben aushalten und meine Vergangenheit annehmen. Meine Motivation mich mit dem 8. Schritt zu befassen waren eher die Gefühle Groll und Schuld. Je mehr ich wagte, mit diesem Schritt zu arbeiten, kam unter anderem auch noch eine Menge Scham dazu. Beim Versuch diese zwischenmenschlichen Beziehungen zu durchleuchten begann ich Zusammenhänge klarer zu erkennen, die mir bei den vorhergehenden 4. Schritten noch verborgen geblieben waren. Oft, wenn ich anderen grollte, musste ich mir eingestehen, dass dem Ganzen ein Versagen meinerseits zugrunde lag. Ich schämte mich für das, was ich war, tat und fühlte, und um es nicht anschauen zu müssen, begann ich dann hochzurechnen und vorzuwerfen, was der andere nicht alles gemacht hätte. Heute kann ich Euch bestätigen, dass der 8. Schritt wirklich funktioniert. Denn immer, wenn ich meine Fehler annehme, dazu stehe und wirklich bereue, kehrt wieder Friede in mir ein. Nicht umsonst stehen unsere 12 Versprechen im Blauen Buch nach dem 8. und 9. Schritt. Auch heute, wenn mir etwas misslingt, mir ein zwischenmenschlicher Schnitzer passiert und ich mich innerlich einrollen und unsichtbar machen möchte, bin ich mit Scham konfrontiert. Ich muss aber nur mehr selten dagegen ankämpfen oder sie verteidigen. Inzwischen halte ich den Schmerz meiner Unzulänglichkeit schon aus, weil ich durch AA einen liebenden Gott gefunden habe, der mich in solchen Situationen trägt und wieder Hoffnung gibt. Heute ist nicht mehr „alles aus“ - es ist da die Hoffnung und oft recht bald das Bewusstsein, dass mir ja eigentlich nichts passieren kann. Vor allem, dass ich ja so nicht bleiben muss. Und auch, wenn fallweise wieder mal ein alter Schambrocken auftaucht darf ich mich daran erinnern, wie viel ich schon annehmen und wie viel in mir schon heilen durfte seit ich begonnen habe, mit unseren 12 Schritten zu arbeiten.

Habt eine wertvolle Zeit,
Christian, Alkoholiker, Österreich

 

weil mir einfach nichts anderes mehr übrig blieb

„Ach, du Sch.......! Es geht nicht mehr so weiter. Ab morgen werde ich endlich mit dem Alkohol aufhören.“ Nächsten Vormittag kapitulierte ich dann. Es war nicht zum Aushalten. Ein Bier würde meinen Zustand erleichtern. Später kapitulierte ich wieder. Diesmal vor mir. Ich musste Hilfe annehmen. Nach einigen weiteren Versuchen kam ich endlich bei der AA an. Dort bekam ich Hilfe. All zufiel wollte ich für den Anfang nicht davon. Nun wurden meine Kapitulationen langsam anders. Kaum trocken begann doch gleich ein Teil von mir, sich einzubilden, es doch alleine schaffen zu können. Immer wieder kapitulierte ich vor diesem Irrtum. Nach und nach kapitulierte ich auch vor den Vorstellungen, dass es doch möglich sein müsste, hie und da ein bisschen zu trinken, da ich nach einigen kontrollierten Achtel-Wein-Versuchen binnen einer Woche wieder bei Schnaps rund um die Uhr gelandet war. Schön langsam wurde ich immer wieder einige Tage trocken. Ich erkannte nach und nach, wo meine Trockenheit noch an Bedingungen geknüpft war und durfte Stück für Stück kapitulieren. Wegen Arbeit, Geld, Beziehung oder Führerschein nicht zu trinken half zwar manchmal ein paar Tage, war aber keine anhaltende Lösung. Einige Male hatte ich auch deshalb wieder angefangen zu trinken, weil ich mir ein paar Tabletten „erlaubt“ hatte. Binnen ein paar Stunden war ich dann auf Alkohol umgestiegen. Ich erkannte, wenn ich ein bisschen „verändert“ war, war der Schritt zum Alkohol sehr klein. Nun kapitulierte ich auch vor Drogen und vielen bewusstseinsverändernden Substanzen. Um zu erkennen, dass es für mich wenig mit Nüchternheit zu tun hat, literweise Kaffee zu trinken oder mir bei jeder Gelegenheit ein Milligramm Nikotin ins Gehirn zu blasen, dauerte es noch eine ziemliche Weile in AA. Als nächstes kapitulierte ich vor meinem Stolz – zumindest machte ich einen merkbaren Anfang damit. Freunde sagten mir: „Jeden Tag ins Meeting, egal in welchem Zustand.“ Was ich nun langsam wirklich tat, wenn ich noch in der Lage dazu war – auch total besoffen. Vorher war ich nur ins Meeting gekommen, wenn ich gerade mal wieder ein paar trockene Tage hatte, weil ich mir nicht die Blöße geben wollte, schon wieder versagt zu haben. Ich wurde und blieb wirklich trocken. Was den Alkohol betrifft hatte ich kapituliert. Ja da würde ich die AA brauchen. Aber was den Rest meines Lebens betrifft war ich nach wie vor überzeugt davon, dass es so gehen musste, wie ich wollte. Wenn's dann wieder einmal überhaupt nicht mehr weiter ging, erinnerten mich Freunde an den 3. Schritt. Widerwilligst kapitulierte ich dann immer wieder, weil mir einfach nichts anderes mehr übrigblieb. Wie mit der Unabänderlichkeit eines Getriebes manövrierte ich mich immer wieder in Lebenssituationen, die sich recht aussichtslos anfühlten. Langsam kapitulierte ich vor unseren Schritten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich ja noch sortiert: Diese Schritte da, die sind okay, die kann ich brauchen – diese da sind nichts für mich. „Lebensfreude ist Thema des 12. Schrittes der Anonymen Alkoholiker“, las ich im 12 + 12 auf Seite 101. „... durch diese Schritte ...“ da waren offensichtlich alle gemeint, nicht nur die, die mir gerade in den Kram passten. Da ich diese Lebensfreude, von der da die Rede ist, auch haben wollte, blieb mir gar nichts anderes mehr übrig, als endlich zu beginnen alle zu verwenden. Das übe ich nun schon eine ganze Weile, und inzwischen geht es meistens schon recht gut. Im täglichen Leben darf ich immer wieder kapitulieren. Ich bin ein Mensch mit menschlichen Begrenzungen. Wenn ich es weiß und damit Frieden habe kann ich gut damit leben. Wenn mein Ego wieder mal ein Stückchen nicht wahrhaben will, dann kanns schon passieren, dass es ein bisschen knirscht, wenn ich daran stoße. Aber es ist leichter mit mir geworden. Recht bald fällt mir dann oft der Satz aus dem Blauen Buch, Seite 91 ein: „Erinnern wir uns an die Entscheidung, alles zu tun, um eine seelische Erfahrung zu machen.“

Habt eine wertvolle Zeit, Christian, Alkoholiker, Österreich.

Schön langsam wurde aus dem Gelassenheitsspruch ein Gebet

Die erste Zeit in AA war es nämlich für mich noch der Gelassenheitsspruch und kein Gebet.

Als ich die AA kennen lernte, kannte ich das Wort Gelassenheit noch nicht. Vieles der Erzählungen war mir vertraut. Aber der Gelassenheitsspruch war für mich schon sehr sonderbar. Es gab Worte und Ausdrücke in den Meetings, die gab es in meinem Sprachschatz noch nicht. Ich brauchte, glaube ich, Monate, bis ich mir das Wort „hinnehmen“ aus unserem Gelassenheitsspruch merkte. So etwas kannte ich bis dato noch nicht. Kämpfen bis zur Selbstzerstörung – das war schon eher meines. Mein Innenleben war eine Hochschaubahn. Alles zu viel, neu, überfordernd. Die Meetings auch, meistens. Aber immer wieder bemerkte ich nach einer viertel Stunde, dass ich ruhiger und klarer wurde. Irgendwie spürte ich, da ist ein sicherer Ort, wo ich es aushalte über mein Leben nachzudenken. Lebenssituationen, die mittags oft noch bedrohlich und unlebar erschienen, begannen sich zu ordnen, und immer wieder entstand Hoffnung, dass es schon irgendwie weitergehen würde. Vor allem, dass ich es aushalten würde. Kaum hatte sich die Meetings Türe hinter mir geschlossen, hatte (m)ich das Leben wieder und Angst, Verzweiflung, Groll und ähnliche Gefühle füllten mich wieder zunehmend aus. Manchmal konnte ich mir ein bisschen Gelassenheit sogar bis nach Hause mitnehmen. Aber spätestens, wenn ich dann meine Wohnungstüre aufmachte, starteten meine Gefühle und Gedanken wieder durch. Oft lag ich dann stundenlang schlaflos im Bett. Freunde hatten mir geraten, in AA-Literatur zu lesen. Irgendwann begann ich damit – nicht, weil ich es wollte, sondern weil ich die Befürchtung hatte: Jetzt knalle ich gleich durch. So verbrachte ich viele schlaflose Stunden anfangs mit dem Buch: „Trocken bleiben – nüchtern leben. Es gab genug Zeiten, wo ich einen Absatz 10-mal lesen musste und immer noch nicht wusste, was ich gelesen hatte. Aber solange ich versuchte, mich auf den Text zu konzentrieren, fixierte ich mich nicht so auf den Aufruhr in meinem restlichen Innenleben. So nebenbei sickerten Ideen in mich ein, die mir immer wieder halfen, dann im täglichen Leben mehr Gelassenheit zu finden. Mit den ständig monoton wiederholten Worten: „Gott gebe mir die Gelassenheit...“ kam ich immer wieder durch besonders kritische Viertelstunden, wenn ich aus lauter Angst und Nervosität nicht in der Lage war, ein Werkzeug oder sonst was halbwegs ruhig zu halten. Ich las weiter in den AA-Büchern, weil ich bemerkt hatte, dass es mir half. Durch die Meetings bei uns, in denen fast immer die Schritte behandelt wurden, und durchs Lesen bekam ich so ganz selbstverständlich Kontakt zu unseren 12 Schritten. Es entstand ein Bezug zu einer Höheren Macht, und plötzlich ertappte ich mich dabei, wie ich mit Sätzen aus unseren Büchern besser durch griffige, aufwühlende Situationen kam. Der Satz „Dein Wille geschehe,...“ aus dem 3. Schritt, 12+12, Seite 39 stützte mich immer wieder, wenn ich das Gefühl hatte, ich halte das alles nicht mehr aus. Ganz langsam kapierte ich, dass ich mein Leben und meinen Willen der Sorge Gottes anvertrauen sollte. Das brachte eine neue Lebensqualität. Anfangs war ich dem Irrtum erlegen, meine Höhere Macht, die ich inzwischen schon Gott nennen konnte, nur um Hilfe zu bitten. Das brachte zwar fallweise Erleichterung und ich fühlte mich gestützt, aber das erste Mal richtig frei fühlte ich mich erst, als ich begann, unseren 3. Schritt wörtlich zu nehmen und mein Leben und meinen Willen wirklich meinem liebenden Gott anzuvertrauen. Die Gelassenheit wurde nun zwar mehr, aber das Chaos in meinen Gefühlen und rund um mich blieb ziemlich unverändert. Immer wieder wurde mir durch meinen Sponsor und durch die Meetings bewusst gemacht, dass ich endlich mit einer Inventur beginnen sollte. Langsam wurde auch mir vieles klarer, und es gelang mir zunehmend, meinen Gefühlen auch Worte zuzuordnen. Durch meine Inventur wurden mir mehr Zusammenhänge bewusst. Ich fand viele Ansatzpunkte in meinem Denken und Handeln, die maßgeblich Schuld daran hatten, dass meine Gelassenheit immer wieder zerstört wurde. Manchmal gut getarnte Forderungen, Erwartungen, Unehrlichkeiten oder verdrängte Ängste raubten mir immer wieder die Ruhe. Ich fand auch Unmengen Verletzungen und zähen Groll, der mir immer wieder aus heiterem Himmel das Leben schwer machte. Oft war ich gut gelaunt unterwegs gewesen, und irgendeine alte Verletzung oder Lüge fielen mir plötzlich ein. Schluss mit lustig – vorbei mit Frieden! Mein Innenleben begann ohnmächtig wie besessen zwischen Angst und Groll hin und her zu rasen. Das Lesen im Programm half mir weiter, und ich entdeckte viele Stellen, die mir hilfreich waren. Im Zuge meiner Arbeit mit dem 4. und 5. Schritt las ich einmal folgendes im 12+12, Seite 53: „...wie sie unter Reizbarkeit, Angst, Gewissensbissen und Niedergeschlagenheit gelitten haben und wie sie unbewusst Erleichterung suchten, indem sie ihren besten Freunden eben die Charakterfehler vorwarfen, die sie selbst zu verbergen suchten.“ Im Laufe der Zeit entdeckte ich noch mehr solcher Zusammenhänge. Ich kapierte, dass nicht immer Situationen oder die anderen Leute Schuld daran hatten, wenn mich die Gelassenheit verließ, sondern wie viel an auslösenden Voraussetzungen ich selbst in jede Lebenssituation mit hineinbrachte. Diese Erkenntnisse waren die Grundvoraussetzungen dafür, dass einiges beginnen konnte zu heilen. Einerseits die Groll- und Angstliste der Inventur und andererseits die Arbeit mit dem 8. Schritt halfen mir da viel. Das Hinschauen, Aufschreiben, wirklich zu meinen Fehlern stehen, bereuen und endlich bereit zu werden, es gut zu machen hat mir mit vielen Altlasten endlich Frieden gebracht. Schön langsam ist nach und nach mehr Ordnung, Ruhe und Klarheit in mir eingekehrt. Bill 132: „Eine Kurzinventur, mitten im Trubel gemacht, bringt wogende Gemüter zur Ruhe.“ So erlebe ich es auch jeden Tag. Immer wieder nehme ich mir einige Momente oder Minuten Zeit, um nach zu schauen, Situationen oder Verletzungen zu verarbeiten, kurz zu beten oder mich neu zu orientieren. So kann ich im Gegensatz zu früher versuchen, dass nicht zu viel zusammenkommt, was mir dann in Summe die Gelassenheit raubt. Ich achte darauf, mir Reserven zu bewahren bzw. zu schaffen. Eines Tages erzählte ein AA-Freund, der im Literaturteam mitarbeitete, von den Literaturprojekten, die gerade übersetzt wurden. Er kam dabei auch auf die Gelassenheit zu sprechen und erklärte einiges zu Wortstamm, Herkunft usw. Das für mich Wesentliche bei dieser Aussage war, dass er meinte, dass bei diesem Wort eigentlich diese heitere Gelassenheit gemeint war. Genau dieser Ausdruck „Heiterkeit“ war es, der mir zu meinem Verständnis noch gefehlt hatte. Genau das war das Wort, das mir für die Beschreibung des Gefühls fehlte, das ich nach einiger Zeit mit den 12 Schritten zu spüren begonnen hatte. Da, wo ich früher häufig Panik, Bedrohung und Ungeduld gespürt hatte, war inzwischen oft diese Heiterkeit spürbar geworden, von der dieser Freund gesprochen hatte. „Ich glaube nicht, dass wir in dieser Welt irgendetwas sehr gut können, bevor wir es üben.“ beschreibt uns Bob in Bill und Bob, Seite 25. Als ich diesen Satz zum ersten Mal las, dachte ich mir, da will ich dranbleiben. Seit ich also wirklich diese Schritte regelmäßig übe, habe ich schon oft verwundert feststellen dürfen, dass mich Situationen nicht mehr umwerfen. Statt irgendeinem Gefühlsausbruch entsteht oft ein erstauntes „Aha“, oder ein innerlich schmunzelndes Zuschauen. Langsam erfahre ich, was mit dem Ausdruck „heitere Gelassenheit“ gemeint ist. Vor allem ist mir das Werkzeug des 10. Schrittes durch das Üben viel vertrauter geworden, wodurch ich auch in Extremsituationen in der Lage bin, es entsprechend zu verwenden. Und nicht umsonst steht der Gelassenheitsspruch auch wieder am Ende des 12. Schrittes, denn durch die Anwendung aller 12 Schritte ist in mir Gottvertrauen und Lebensfreude entstanden. Oft erlebe ich mit Humor und Abstand Lebenssituationen, die ich noch vor einiger Zeit als existenzielle Bedrohung empfunden hätte.Nach und nach ist aus dem Gelassenheitsspruch für mich ein Gebet geworden. Ich möchte heute den Weg der 12 Schritte nicht mehr missen.

Habt eine wertvolle Zeit, Christian, Alkoholiker, Österreich

„Aber von den Dingen, die uns wirklich sehr belasten, sprechen wir nicht.“ (12+12, S 52)

Nachdem ich schon einige Male auf mein Trinkverhalten angeredet worden war, hatte ich begonnen, überwiegend heimlich zu trinken, und wenn die Sprache darauf kam, mein Suchtproblem zu beschönigen. Das wurde richtig automatisch, sowohl vor mir selbst als auch vor den anderen. Wenn irgendwer das Wort „Alkohol“ in den Mund nahm, fühlte ich mich bedroht und hatte sofort eine Reihe von Rechtfertigungen parat, auch wenn es gerade gar nicht um mich ging. Dass da irgendetwas nicht stimmte, merkte ich erst viel später. Nach einer durchtrunkenen Nacht ergab sich im Laufe der Morgenstunden ein ehrliches Gespräch mit einer alten Freundin. Einige wenige Personen waren in meinem Umfeld ja doch noch übrig geblieben. In diesem Gespräch sagte ich ihr auch, dass ich Alkoholiker bin, dass ich ein Problem mit dem Trinken habe und eigentlich nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Das war ein ganz kleiner Anfang zu meiner Krankheit zu stehen. Wieder einige Monate später tauchte ich langsam bei den AA auf. Ich setzte mich immer in eine stille Ecke und wartete bis es 21 Uhr wurde. Zum Reden war ich zu feig. Nur manchmal, wenn der Spiegel gerade passte, traute ich mich auch was zu sagen. Das Vorstellen mit: „Ich bin Christian, ich bin Alkoholiker“, war mehr als befremdlich. Ich war überzeugt, bei mir ist alles anders. Trotzdem kam ich immer wieder, weil ich spürte, es half mein Leben irgendwie auszuhalten. Nach und nach durfte ich akzeptieren, dass ich Alkoholiker bin. Durch das Darüber-Reden, durch das Vorstellen im Meeting, durch das Bekennen: „Ich bin Alkoholiker“ durfte ich mein Suchtproblem ganz langsam annehmen. Am Beginn der Zeit in AA war das Bewusstsein dieser Krankheit mit Versagens- und Unzulänglichkeitsgefühlen, Schuld, Angst und Scham besetzt. Durch das immer wiederkehrende Wiederholen und Üben mein „Ich bin“ mit dem Wort bzw. Bewusstsein „Alkoholiker“ zu sein, zu verbinden, wurde es langsam selbstverständlicher und nicht mehr so schrecklich wie am Anfang. Ich bemerkte, wie mir aus diesem Selbstverständnis in der Öffentlichkeit die Kraft erwuchs, in allerlei Situationen, in denen ich mit Alkohol konfrontiert wurde, zu meinem Suchtproblem zu stehen. Ich konnte immer öfter, immer leichter zu angebotenen Getränken „nein“ sagen und mich dabei nicht wie der letzte Arsch fühlen. Nach und nach wurde es genau so selbstverständlich, wie z. B. meine Schuhgröße. Dass eine Sucht selten allein kommt, bemerkte ich schon bevor ich trocken wurde. Dass mich das auch zu stören begann, dauerte noch eine ganze Weile. Anfangs war alles besser als Trinken. Glücklicherweise ging ich weiter zu AA und lernte Menschen kennen, die dieselben Erfahrungen gemacht hatten. Ich lernte auch unser wunderbares Werkzeug des 5. Schrittes kennen. Ich fand Menschen, mit denen ich viel von dem was mich bedrückte und auch meine Suchtprobleme besprechen konnte. Ich begann an meiner ersten Inventur zu arbeiten und suchte mir einen Sponsor mit dem ich das alles besprechen konnte. Durch diese ersten Versuche bemerkte ich, wie sich nach und nach meine seelischen Krämpfe auflösten. Stück für Stück hatte ich nun begonnen, meine Vergangenheit, mein So-Sein kennen zu lernen und auch anzunehmen. „Aber von den Dingen, die uns wirklich sehr belasten, sprechen wir nicht. Gewisse peinliche und demütigende Erinnerungen sind nach unserer Meinung nicht für andere bestimmt. Sie bleiben unser Geheimnis. Niemand soll etwas davon erfahren. Wir möchten sie mit ins Grab nehmen.“ (12+12, Seite 52-53). Vor diesen Versuchen darüber zu reden, hatte ich vieles so wie im 12+12 beschrieben steht, erlebt. Genauso wie ich am Anfang in AA bemerkt hatte, dass durch das Aussprechen ein Annahmeprozess und ein selbstverständlicherer Umgang mit meiner Krankheit Alkoholismus entstanden war, erlebte ich es nun mit meinen Charaktereigenschaften und anderen Süchten. Durch das Darüber-Reden durfte ich mich Stück für Stück annehmen und auch erkennen und spüren, dass ich so nicht bleiben wollte, vor allem, dass es möglich ist, mit Gottes Hilfe suchtfreier zu werden. Inzwischen habe ich viele Süchte kennen gelernt, bzw. sind sie mir bewusst geworden. Und Gott sei Dank bin ich den Großteil davon für heute wieder losgeworden. Inzwischen weiß ich, dass ich eine Suchtpersönlichkeit habe. Ein AA-Freund hatte mal im Meeting gesagt, dass er wohl auch auf Fußpilz süchtig werden könnte. So wie ich gebaut bin, kann ich mir auch vorstellen, dass ich alles suchtartig missbrauchen möchte, was sich gerade lohnend anbietet. Glücklicherweise habe ich in AA auch das Werkzeug des 10. Schrittes kennen gelernt. Ich habe immer wieder bemerkt, dass ich – wenn ich am Abend regelmäßig meinen 10. Schritt mache – diese Tendenz zur Ausuferung in allen möglichen Lebensbereichen entdecke. Aber eben durch die regelmäßige Anwendung des 10. Schrittes habe ich auch immer wieder erlebt, dass es mir nicht mehr möglich ist, so extrem in eine Suchtverlagerung zu gehen, wie früher. Wenn ich heute bemerke, irgendwo beginnt etwas zu schräg zu werden, weiß ich, dass ich möglichst bald mit einem Freund darüber sprechen werde. Das offene Reden über ein Suchtproblem hat mir bisher immer wieder geholfen, in diesen Bereichen gesünder zu werden. Nicht nur ich als Alkoholiker neige dazu, alles mögliche suchtartig zu missbrauchen. Ich habe schon Nichtalkoholiker kennen gelernt, die die selben Tendenzen aufweisen. Wenn es die Situation erfordert, passiert es immer wieder, dass ich im täglichen Leben über all meine Suchtprobleme offen rede. Manchmal schaue ich mir überrascht dabei zu, wie unbefangen und ehrlich ich inzwischen über vieles reden kann, wovon ich am Anfang meiner AA-Zeit überzeugt war, dass ich es mit ins Grab nehmen würde. Oft darf ich einfach nur dankbar feststellen, wie beschenkt ich damit bin, unsere 12 Schritte bekommen zu haben, und wie viel freier ich durch sie geworden bin.

Habt eine wertvolle Zeit, Christian, Alkoholiker, Österreich

Ich hätte viel dafür gegeben, mir glaubhaft beweisen zu können, dass mein Sponsor auch ein Idiot sei.
Als ich noch Kind war, wurde mein Vater krank, aggressiv und manchmal gewalttätig. Ich erschuf mir eine schönere Scheinwelt, um darin zu leben. Als Jugendlicher erlebte ich einige Jahre an mir eine Missbrauchsgeschichte verbunden mit Alkohol und Drogen. Ich baute mir ein Lügengebäude, um mit meinem Doppelleben darin zu leben. Als ich begann mit meinem Beruf Geld zu verdienen, gab es eigentlich nichts, was vollkommen im legalen Bereich gewesen wäre. Wenn ich mir fremde Dinge aneignete stahl ich nicht – ich war überzeugt, diese Sachen stehen mir zu. Als mich mein Umfeld darauf ansprach, dass mein Alkoholkonsum schon enorm sei, begann ich heimlich zu trinken. Auf der einen Seite war die Einbildung: Wenn ich wollte würde ich schon aufhören. Auf der anderen Seite die Realität meines Lebens, die von Tag zu Tag schneller bergab ging. Als die Schere zu weit auseinander ging, schlug ich wieder einmal fest auf und landete das erste Mal bei AA. Ich begann mich langsam aufzurappeln, um immer wieder ein paar Tage trocken zu sein. Der Leidensdruck trieb mich weiter in die Meetings. Durch die Spiegelbilder der AA-Freunde musste ich langsam ehrlicher zu mir werden. Ausrede für Ausrede durfte ich mir langsam abschminken. Endlich durfte ich mir eher instinktiv als bewusst eingestehen: Mit Alk. ist nichts Angenehmes mehr zu holen. Eigentlich gab’s schon längere Zeit vorher nur mehr Entzug und Bewusstlosigkeit. Ich konnte es mir nur mangels Alternativen nicht eingestehen. Ich wurde und blieb trocken. Tabletten und Drogen ließ ich vorerst sicherheitshalber auch weg. Einige Zeit vorher hatte ich in einer Trockenphase nach ein paar Schmerztabletten wieder zu Alk. gegriffen.
Nach einigen Monaten – ich war immer noch trocken – bemerkte ich etwas Neues in mir. Ich bemerkte den Wunsch in mir, einen klaren Kopf zu haben, egal was passiert. Nicht nur vorerst nicht saufen. Ich hatte eine Lade mit allerlei bunten Tabs und sonstigen Sachen. Ich rang mich dazu durch, alle meine Schätze ins Klo zu werfen. Ich entsorgte also alles. Als ich ein halbes Jahr später den Rest entsorgte, wurde mir das erste Mal bewusst, was „Ehrlichkeit für heute“ bedeutet. Inzwischen hatte ich mir auch einen legaleren Rahmen für meinen Broterwerb gesucht und mich auf der Uni abgemeldet. Ich war ja über 5 Jahre Student und weiß bis heute nicht, wie ein Hörsaal von innen aussieht. Wieder einige Zeit später – ich hatte mir inzwischen einen Sponsor gesucht – war ich wieder einmal damit beschäftigt, ihm zu beweisen, warum ich mich in dieser einzigartigen Situation über diesen Idioten ärgern musste. Dass mein Groll berechtigt war, war eine klare Sache. Ich bekam den Tipp, alles, was mir an dem Idioten auf die Nerven ging und mich störte, auf einen Zettel aufzuschreiben. Das ging mir leicht von der Hand. Leider bekam ich auch den Tipp, ich solle mir überlegen, was von diesen Verhaltensmustern, die ich diesem Idioten auf dem Papier vorgeworfen hatte, vielleicht auf mich zutreffen könnte. So ein Blödsinn! Ich stellte aber fest, dass ich ähnlich lästige Eigenschaften selbst hatte oder schlicht und einfach auf irgendetwas neidig war, wovon ich überzeugt war, es würde mir zustehen. Ich hätte viel dafür gegeben, mir glaubhaft beweisen zu können, dass mein Sponsor auch ein Idiot sei. Nur nach dem Tipp mit dem Zettel funktionierte das leider nicht mehr. In meinem weiteren trockenen Leben hat mir die Sache mit dem Zettel schon oft geholfen, mich besser zu erkennen und ehrlicher zu sehen. Da ich während der Situation mit dem Idioten schon immer wieder regelmäßig in unserer Literatur las, stieß ich in weiterer Folge in unserem 12+12 auf: „...und wie sie unbewusst Erleichterung suchten, indem sie ihren besten Freunden eben die Charakterfehler vorwarfen, die sie selbst zu verbergen suchten.“ (Seite 53). Der Gedanke, ein 5. Schritt könnte mir mehr Frieden in meinem Leben bringen, ließ mich nicht mehr los. Ich musste also irgendwie zu einem 4. Schritt kommen. Ein riesiges Projekt, das ich länger vor mir herschob. Bis ich im Meeting hörte: „Gründlich heißt anfangen.“ Und: „ Bereichsinventuren sind hilfreich.“ Da ich damals mit meiner Zeit außer arbeiten, essen, schlafen und Meetings noch nichts anzufangen wusste, begann ich mit dem Bereich Arbeit. Nicht nur dass ich von meinen Fähigkeiten Vorstellungen hatte, die keineswegs der Realität entsprachen – es gab noch mehr Irrtümer. Als ich begann mir meine Beweggründe und Antriebe genauer anzuschauen, wurde mir übel. Ich wusste über meine wirklichen Fähigkeiten wenig Bescheid. Vor lauter Versagensangst wäre ich am liebsten davongerannt. Aber von irgendetwas musste ich ja leben. So nahm ich viele Aufträge vorerst einmal an, um dann oft sorgenvoll über einem Liefertermin zu brüten oder zu rätseln, wie ich die Sache überhaupt zustande bringen sollte. Ich kam dahinter, es ging mir eigentlich nicht um meinen Broterwerb, sondern ich wollte Liebe und Achtung von meinen Kunden. Dadurch machte ich mich abhängig und ließ mich selber bei der Preisgestaltung oft im Stich. In meiner tiefen Unsicherheit war ich viel damit beschäftigt, die Fehler der anderen zu suchen, was sich schlecht auf die Qualität meiner Arbeit auswirkte, da ich mit meinem Kopf nicht bei der Sache war. Ähnlich blöd schaute ich auch bei anderen Themen drein, als ich begann, Lebensbereiche wie z. B. Zwischenmenschliches, Geld, Beziehungen, Schulzeit, Jugend, Angst, Sexualität oder Zeit genauer zu durchleuchten. Als es an den 5. Schritt ging, war ich froh, alles aufgeschrieben zu haben. Ich bemerkte sofort mein Bedürfnis, Dinge hübsch einzupacken, zu begründen, wegzulassen oder vor lauter Nervosität einfach zu vergessen. Noch eines fiel mir auf: Situationen und Gefühle, die ich unverhüllt aussprach, wanderten vom Kopf in den Bauch. Einiges, wo ich mir gedacht hatte, das ist ja so fürchterlich, rückte sich zurecht, und ich kam dahinter, dass ich auch nur ein Mensch unter Menschen bin. Einige harmlosere Dinge hingegen konnte ich auch ehrlicher erfassen und erstmals erkennen und spüren, welche entsetzlich gravierenden Auswirkungen diese „Kleinigkeiten“ auf die Qualität meines trockenen Lebens hatten. Außerdem stellte mein Sponsor immer wieder klare Fragen zu diversen Angelegenheiten, und zwar Fragen, die ich mir selber freiwillig nicht gestellt hätte. So wurde es mir oft unmöglich, an neuralgischen Punkten vor mir davonzulaufen. Ich konnte wieder ein Stückchen zu mir ehrlicher werden und tiefer zu meiner Realität vordringen. Ähnlich lästige Denkanstösse prallten mir auch immer wieder aus unserem 12+12 entgegen, wenn ich z.B. wieder mal beim 6. Schritt vorbeikam. Ich möchte heute nicht mehr die Werkzeuge des 4., 5. und 6. Schrittes in meinem Leben missen, die mir immer wieder helfen, meine Beweggründe und die Auswirkungen meines Denkens und Handelns klarer zu durchschauen. Kaum trocken hörte ich etwas vom 8. Schritt und der Wiedergutmachung. Randvoll mit meinen Schuldgefühlen startete ich sofort los um bei meiner Ex wieder gutzumachen, was natürlich wieder in einem Streit endete. Bis auf weiteres verschob ich derlei Aktivitäten. Ich brauchte zuerst die Schritte vorher bis ich mich wieder ernsthaft mich diesem Thema beschäftigen konnte. Inzwischen hatte ich auch schon erfahren, wie wichtig es ist, 8. und 9. Schritt auseinander zu halten. Es ist wie beim 4. und 5. Schritt. Wenn ich beim Inventurschreiben mich schon fürchte, es jemandem erzählen zu müssen, beginne ich sofort, die Realität zu verdrehen. So erkannte ich bei meiner 8.-Schritt-Liste, dass ich oft in keinster Weise bereit war, Schaden gut zu machen bzw. was daraus zu lernen und zu ändern. Wie zum Beispiel bei meiner ersten „Wiedergutmachungserfahrung“ mit meiner Ex kam ich dahinter: Ich wollte eigentlich nicht gut machen, ich wollte lediglich für meine „Untaten“ sanktioniert werden und meine Ex wieder als Partnerin haben. Das konnte nur in einem Streit enden. So hat mir auch der 8. Schritt langsam geholfen, meine Beziehungsmuster ehrlicher zu erkennen. Im 9. Schritt ist die Bedingung „...es sei denn...“ eingefügt. Durch diese Worte gelingt es mir, weniger oft die Wahrheit für meine selbstsüchtigen Ziele zu missbrauchen und mir dabei zu verkaufen, welch edle Zwecke ich damit verfolge. Ich kann heute öfter in mich hineinhorchen oder hineinfühlen und mir selber Fragen stellen. „Möchte ich mich mit dieser Ehrlichkeit wichtig machen, aufblasen, meinen Selbstwert definieren – oder geht es mir wirklich um das Wohl des anderen? Geht es etwa um Machtkämpfe? Wem nützt es? Ist es wirklich notwendig?“ Wenn ich Liebe in mir spüre, wird’s schon passen.  Schon bald nach Beginn meiner andauernden Trockenheit hatte ich begonnen, den schriftlichen 10. Schritt am Ende des Tages immer wieder anzuwenden. Er ist eine wunderbare Methode, immer wieder mit meinem täglichen Versagen Frieden zu schließen und mich und meine Fähigkeiten, Grenzen, Charaktereigenschaften – einfach mein Sosein besser kennen zu lernen. Da ich diese Möglichkeit inzwischen täglich nutze, hat es sich als sehr nützlich für mein Leben erwiesen, parallel dazu Gedanken und Erkenntnisse zu verschiedenen Lebensbereichen im Rahmen von Bereichsinventuren zu sammeln. So erlebe ich oft, dass eine Ratlosigkeit einer täglichen Schwierigkeit gegenüber nach und nach ein klareres Gesicht bekommt oder Lösungen zu unklaren Fragen entstehen, die ich mir selbst nicht hätte ausdenken können. Ich habe durch diese Inventuren die Möglichkeit, bei ähnlichen wiederkehrenden Situationen mein inneres und äußeres Handeln jetzt und früher klar zu vergleichen. Wenn ich so vergleiche stelle ich oft fest, wie verrückt ich mich früher benommen habe und wie es im Laufe der Zeit doch ein Stückchen gesünder geworden ist. Ich weiß auch noch, dass ich mich zu diversen früheren Zeitpunkten doch immer wieder ziemlich okay gefühlt habe, was ich heute oft anders sehen kann. So ist auch meine heutige Wahrheit nicht der Weisheit letzter Schluss. Inzwischen habe ich schon zur Kenntnis genommen, dass Ehrlichkeit ein lebendiger Prozess wird, wenn ich mich bemühe, immer wieder daran zu arbeiten.

Habt eine wertvolle Zeit miteinander Christian, Alkoholiker Österreich

OLDTIMER – NET SAUFEN, NET STERBEN?

Ich bin sehr froh, dass ich glauben durfte, dass „sie“ trocken sind, als ich zu AA kam. So hatte ich auch keine Zweifel, als ich dann hie und da unter vorgehaltener Hand hörte: „Der ist schon 11 Jahre, die schon 12 oder gar 17 Jahre trocken.“ Ich nahm sofort ein Podest, stellte alle drauf um sie zu bewundern und zu kopieren. Langsam musste ich schmerzhaft erfahren, dass mir einer nach dem anderen wieder auf den Kopf fiel. Nach und nach kapierte ich, dass auch sie nur Menschen sind. Inzwischen war ich einige Jahre in AA und kam für mich zu der unbequemen Erkenntnis, dass an Eigenverantwortung kein Weg vorbeiführt. Ich lernte Unterschiede wahrzunehmen und langsam zu entscheiden, welche Art von Trockenheit ich anstrebe. Einfach nur trocken war mir zu wenig. Da gab’s noch mehr. Ich wusste, ich wollte und konnte mit Gottes Hilfe gesund werden. Ich kam für mich zu der Erkenntnis, dass es wenig mit Nüchternheit zu tun hat, mir alle viertel bis halben Stunden ein Milligramm Nikotin ins Gehirn zu knallen. Oder mich mit anderen legalen Substanzen sukzessive selbst zu zerstören. Nach einigen Jahren des Leidens hat mich unser liebender Gott auch davon befreit. Inzwischen war ein Jahrzehnt vergangen und ich draufgekommen, dass Oldtimer wohl noch mehr als nur Jahre nicht trinken bedeutet. Bill hat’s so beschrieben: „Der Oldtimer ist einer, der die Weisheit der Gruppenentscheidung respektiert, der nicht darüber gekränkt ist, dass man ihn abgewählt hat. Er hat ein gesundes Urteilsvermögen, das auf beträchtlicher Erfahrung basiert, und er ist bereit, still in einem Meeting zu sitzen und die weitere Entwicklung abzuwarten.“ (12+12 Seite 129). Da bemerkte ich ja noch ganz andere Regungen in mir. Wenn da etwas Ungewohntes oder Unübliches in Gruppe oder AA passierte, begann immer ein manchmal stummes, doch überwiegend mehr oder weniger lautes Ringen um die richtigen Worte. Weil, so geht das doch nicht!!! Ich merkte wie viel – natürlich berechtigte – Angst um AA noch tief in mir saß. Ich kapierte langsam, dass unser 3. Schritt nicht nur für mein Leben und meinen Willen Gültigkeit hat, sondern auch für die AA. Natürlich können sich auch ganze Gruppen irren. Es sind ja auch schon genug von der Bildfläche wieder verschwunden. Aber ich konnte und musste auch nicht wissen, was unser liebender Gott da wohl genau vor hatte.  Inzwischen sind 2 Jahrzehnte vergangen. Die Angst ist viel weniger geworden. Dafür habe ich einiges an Geduld und Liebe bekommen. Ein guter Tausch. Ich wünsche mir zusehends einfach echt zu sein, zu zeigen und zu erzählen, wie ich das Programm lebe und das Bewusstsein zu suchen, nicht das Maß der Dinge zu sein. Wenn ich heute über Bill’s: „Wenn irgend jemand irgendwo um Hilfe ruft, möchte ich, dass die Hand der AA ausgestreckt ist, denn: Ich bin verantwortlich.“ (Wie Bill es sieht Nr. 332) nachdenke, fühle ich mich auch verantwortlich. Ich weiß ich bin wichtig, denn ich bin ein Teil der AA. Aber ich bin genauso wichtig, wie alle anderen „Hände“. Ich habe nicht vergessen, dass ich einmal alte AA-Freunde auf ein Podest gestellt habe. Ich hatte ja auch selber meine Zeit, wo ich mich gemütlich darauf sonnte. Wenn ich heute so etwas bemerke, versuche ich schleunigst diesen Platz zu verlassen und zu vermitteln, dass ich ersetzbar und entbehrlich und nur für heute durch die Gnade Gottes trocken bin. Ich denke mir heute: „ Nein, ich nicht mehr. Es gibt immer andere, die schon darauf warten.“ Und ich warte, wer als nächster oben landet. Inzwischen weiß ich, dass es möglich ist in AA 40, 50 oder mehr Jahre zufriedener Nüchternheit zu erleben. Ich wünsche mir für mich, dass ich auch noch ein ordentliches Stück nüchternes Leben geschenkt bekomme.

Habt inzwischen eine wertvolle Zeit, Christian, Alkoholiker.

 

 

 

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